Schlechte Zeiten für Innovation
Eine gute Idee ist oft nicht genug. Ob ein Automobil tatsächlich zum Bestseller wird oder in den unteren Parkdecks der Geschichte verstaubt, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Mindestens genauso wichtig wie das Talent der Designer und Ingenieure sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren, die einen Erfolg begünstigen – und diese waren Anfang der Siebzigerjahre alles andere als förderlich. Als 1974 die ersten Exemplare des Lamborghini Countach aus den Werkshallen in Sant’Agata Bolognese rollten, waren die unbeschwerten Zeiten des Autmobilbaus schon fast vorbei. Immer strengere Zulassungsvorschriften und die Auswirkungen der Ölkrise machten den Geschwindigkeitsjägern das Leben schwer. Auch Ferruccio Lamborghini war elf Jahre nach Firmengründung die Lust an der eigenen Sportwagenmarke vergangen – er verkaufte seine Anteile und zog sich auf sein Weingut zurück. Um die finanzielle Zukunft von Lamborghini zu sichern, wünschten sich die Vorstände ein kleines, sportliches Einsteigermodell mit nur zwei Sitzen und auf Basis vorhandener Fahrwerke und Motoren. Den Auftrag für die Designkonzeption erhielt – wie schon bein den Prototypen des Lamborghini Marzal und Countach – das Studio Bertone aus Turin und dessen Chefstylist Marcello Gandini.
Die Kante ist Programm
Obwohl die Scheibe fast so flach war wie die Fronthaube, bot die Vollverglasung beste Rundumsicht. Den Auftrag für die Scheibengestaltung soll Bertone übrigens direkt von Lamborghinis Chefingenieur Paolo Stanzani erhalten haben. Als weiteres prägnantes Stilmittel hatte Gandini die Front und das Heck mit einer geometrischen Lamellenstruktur durchzogen, den Karosseriekörper im Stil der Zeit mit einer durchgehenden Linie „halbiert“ und die hinteren Radhäuser in bewährter Form angeschnitten. Wie der Urraco setzte auch das neue Modell auf dezente Klappscheinwerfer. Neu waren derweil die Fünfloch-Felgen, die an eine Revolvertrommel erinnerten – und später zum Erkennungszeichen der großen Zwölfzylindermodelle von Countach bis Murciélago werden sollten.
Ein äußerst mobiler Prototyp
Sein Debüt gab der Lamborghini Bravo – der Name prangte als stilisierter Schriftzug am Heck der Studie – auf dem Stand von Bertone beim Turiner Salon 1974. Weil die finanziellen Mittel nur die Entwicklung eines einzelnen Autos zuließen, war der Bravo von Anfang an als fahrbarer Prototyp entwickelt worden. Und obwohl das Cockpit klaustrophobisch eng bemessen und nur mit den allerwichtigsten Elementen sowie einfachen Alcantara-Sportsitzen bestückt war, wurden mit dem Mittelmotor-Newcomer nach dem Messedebüt zehntausende Kilometer abgespult. Neben Entwicklern, Testfahrern und Journalisten sollen auch René Leimer und Georges-Henri Rossetti, denen die Sportwagenmarke nach dem Rückzug des Gründers Ferruccio Lamborghini gehörte, immer wieder mit dem Bravo in die Schweiz gefahren sein. Und der kompakte Kantenkeil wusste zu überzeugen: Im Magazin „Road & Track“ wurden die Fahrqualitäten in höchsten Tönen gelobt – Steuerung und Handling seien so gut, wie man es sich vom Urraco immer gewünscht habe.
Der Traum vom kleinen Kampfstier
Auf den wichtigsten Messen in Paris, Barcelona, Genf und Tokio war der Lamborghini Bravo in den kommenden Jahren stets präsent. Dabei wechselte er über die Jahre immer wieder die Farbe: Zunächst in hellem Gold lackiert, erstrahlte das Concept Car ab 1977 in einem metallischen Grün, bevor es in den 1980er Jahren wieder in Gold und 2004 schließlich im heutigen Perlweiß lackiert wurde. Auch wenn Lamborghini den „Baby Countach“ im Kampf gegen die kompakten Achtzylinder-Modelle von Ferrari, Maserati und De Tomaso dringend benötigt hätte, machte die desaströse Finanzlage des Unternehmens eine Serienproduktion unmöglich. Auch hätte das geometrische Geschoss wohl kaum einen modernen Crash- oder Zulassungstest bestanden. 1976 schickte Lamborghini mit dem Silhouette zwar noch einen Zweisitzer mit acht Zylindern auf die Straße – doch das mit seinen dicken Stoßstangen und dem Targadach offensichtlich für den amerikanischen Markt konzipierte Modell konnte die Kunden nicht überzeugen, nur 54 Exemplare wurden gebaut. Der zwischen 1981 und 1988 etwas mehr als 400 Mal gebaute Lamborghini Jalpa war zwar etwas erfolgreicher, an die Aura eines Countach reichte der V8 jedoch nicht heran. Erst 2003 wurde der Traum vom kleinen Kampfstier Realität: Der vom belgischen Designer Luc Donckerwolke entworfene Lamborghini Gallardo, der die geometrische Strenge Gandinis gekonnt ins 21. Jahrhundert trug, wurde zum erfolgreichsten Modell der Markengeschichte.
„Standing Ovations“ für den Lamborghini Bravo
Der Lamborghini Bravo blieb derweil auch ohne Seriengang ein Hingucker: Von 1987 bis 2011 konnte man den Baby-Bullen im Bertone-Museum in Turin bewundern. Als dieses aufgelöst und die Sammlung versteigert wurde, wechselte der Bravo für knapp 600.000 Euro den Besitzer. Nach behutsamer Restaurierung bereichtert das Schlüsselmodell heute die wichtigste private Lamborghini-Sammlung der Welt. Und auch wenn der kleine Flitzer nicht zu den spektakulärsten Entwürfen Marcello Gandinis gehört, ist doch noch immer erstaunlich, mit welchem Gespür für Proportionen, geometrisches Gleichgewicht und prägnante Details der Großmeister der italienischen Autodesign-Moderne seinen Prototypen auf die Räder stellte. Fast ist man sicher: Hätte Lamborghini den Bravo einst gebaut, er würde heute zu den großen und heiß begehrten Ikonen aus Sant’Agata gezählt.
Fotos: Rémi Dargegen for Classic Driver © 2017