Es gibt Momente im Leben eines Journalisten, in denen man alle Neutralität und Objektivität zugunsten der persönlichen, subjektiven Perspektive über Bord werfen muss. Man sagt dann „ich“ statt „wir“ oder „man“. Für mich kam dieser Moment am letzten Freitag, als ich endlich vor ihm stand: Dem Auto, das ich seit meiner Kindheit angebetet habe, das meine Leidenschaft für Autos entzündete und bis heute meine Verehrung für italienisches Design der siebziger Jahre befeuert. Der flache, gelbe Lamborghini Countach LP 500 war eben in der Auffahrt des Grand Hotel Villa d‘Este ausgeladen worden, Scherentüren in den Himmel gereckt, als ich von einem starken Déja vu-Gefühl überflutet wurde. Dabei hatte ich dieses Auto nie zuvor gesehen: Es war während eines Crashtests am 21. März 1974 auf der britischen MIRA-Versuchsstrecke zerstört worden – mehr als vier Jahre vor meiner Geburt.
Die letzten Tage vor der Show
Neben mir befand sich der Schweizer Ausnahme-Autosammler Albert Spiess. Er hatte die Rekonstruktion des Lamborghini Countach LP 500, den wir nun gemeinsam betrachteten, Ende 2017 in Auftrag gegeben – jetzt nahm er dieses unglaubliche Gefährt zum ersten Mal in Augenschein. Beim Anlassen des Motors wurde die weihevolle Stille jäh unterbrochen, denn der Countach sprang mit Gebrüll zurück ins Leben. Wie bei einem Zeitsprung fühlte ich mich in die letzten Tage vor dem Genfer Automobilsalon 1971 zurückversetzt, als Designer Marcello Gandini und alle anderen, die mit der Entwicklung dieses Supercar-Nachfolgers des Miura betraut waren, letzte Hand vor der Premiere anlegten. Das Team bei Bertone hatte Motor und Chassis erst Anfang Januar 1971 von Lamborghini erhalten. Damit blieben ihnen nicht einmal acht Wochen, um ihr Design umzusetzen.
Die Arbeitsabläufe unterschieden sich damals sehr stark von heutigen Prozessen. Schlagworte wie „Rapid Prototyping“ oder „agiles Design“ waren noch unbekannt, Designer und Ingenieure experimentierten und improvisierten seinerzeit jedoch täglich: Sie mixten bereits existierende Formen, Motoren und Getriebe, um etwas völlig Neues zu entwickeln. Tatsächlich hatte Marcello Gandini den Einfall mit der Keilform und den Scherentüren nicht, als er vor einem weißen Blatt Papier saß – obwohl diese Komponenten bis heute die Urform eines jeden Lamborghini bilden. Dieser Entwurf verdankte sich vielmehr Bertones Alfa Romeos Carabo von 1968 – einem kühnen Konzeptauto, das für den Mailänder Hersteller schlicht zu wild für eine Serienproduktion erschien. Lamborghini andererseits hatte mit dem Jarama ein Modell, das sich für die Kunden als zu zahm erwiesen hatte, und war jetzt auf der Suche nach mehr Dramatik. Die ehrgeizigen Ingenieure Stanzani und Dallara in Diensten der noch jungen Marke strebten ihrerseits nach einer extremeren Motorisierung. Und mit Gandini hatten sie einen Bruder im Geiste gefunden.
CSI Sant’Agata
Die Saga des Countach ist zwar schon oft erzählt worden, dabei blieben aber die Details der Prototyp-Entwicklung immer etwas unscharf. Während also das Team bei Polo Storico normalerweise wohldokumentierte Sportwagen wie den Miura und den Espada zu neuem Glanz bringt, glichen ihre Bemühungen beim LP 500-Projekt eher einer kriminalistischen Spurensuche. „Wir haben quasi bei null angefangen und mit umfangreicher Recherche begonnen“, erklärte Giuliano Cassataro, Chef des Kundenservice und von Polo Storico, im Gespräch während des Concorso d‘Eleganza Villa d‘Este. Sie stöberten durch die Archive, analysierten technische Zeichnungen, Aufzeichnungen von Meetings und Fotografien und zugleich sprachen sie mit zahlreichen Zeitzeugen, die bei Lamborghini und Bertone in 1970 und 1971 an diesem Projekt beteiligt gewesen waren. „Das Zusammentragen der Dokumentation war ganz wesentlich. Denn man hatte allen Details des Autos, deren Gesamtübereinstimmung und den technischen Spezifikationen größte Aufmerksamkeit geschenkt.“
Es stellte sich bald heraus, dass der LP 500-Prototyp komplett von Hand aufgebaut worden war und sich stark von dem späteren Serienfahrzeug unterschied – der Lamborghini LP 400 wurde 1973 vorgestellt. Um also den Entwicklungsprozess besser zu verstehen und reproduzieren zu können, begaben sich Stefano Castricini und seine Kollegen auf eine imaginäre Zeitreise, um diese damalige Erfahrung nachvollziehen zu können. Sie schufen sogar die Werkzeuge und bildete die Methoden nach, die notwendig waren, um den allerersten Countach zu fertigen. Die Volumina des Autos wurden in 3D definiert mit Hilfe von Scans des allerersten LP 400, während die eigentlichen Bleche von „Battilastra“ auf maßgefertigten Formen geschlagen wurden – so wie es vor fünfzig Jahren bei Bertone geschah.
Die Recherche ergab bald, dass viele technische Komponenten und der Motor entweder aus der Produktionslinie in Sant‘Agata „geliehen“ oder sonderangefertigt worden waren. „Wir analysierten eine Menge Material und kamen rasch zum Schluss, dass es sich beim Motor um einen üblichen Vierliter-V12 mit zwei Ventilen wie im Espada oder Islero handelte, der im unteren Motorenbereich angepasst und verstärkt worden war“, sagt Giuliano Cassataro. „Die Bezeichnung LP 500, die auf einen 5,0-Liter-Antrieb hinwies, entpuppte sich als noch nicht realisiertes Wunschdenken.“ Nachdem Versuche mit größeren Hubräumen seinerzeit gescheitert waren, musste man sich für den LP 400 mit vier Litern begnügen. Zugleich war die Chassis-Struktur des LP 500 eine wilde Mischung aus geschweißten Panelen vorne und Rohren im Heck. Der spätere LP 400 sollte als Upgrade ein steifes Rohrrahmen-Fahrgestell erhalten, das als Evolution betrachtet werden kann. Tatsächlich erfuhr der Prototyp nach seiner Genfer Premiere 1971 weiter laufend Modifikationen bei Design und Funktionalität. Man lernte aus den Fehlern und machte so den Weg zum Serienmodell frei.
Von Purismus zu Funktionalität
Das Team von Lamborghinis Restaurierungsabteilung entschied, den Prototyp so wie er beim Salon ausgesehen hatte, wiedererstehen zu lassen – und dabei auch absichtlich einige der anfänglichen Mängel beizubehalten. „Die Lufteinlässe funktionierten nicht, der Winkel in dem die Luft dem Motorraum zugeführt wird, war falsch berechnet worden – es war schlicht ein Fehler“, berichtet Stefano Castricini von Lamborghinis historischer Abteilung Polo Storico, während er mich um das Auto herumführt. „Wir sehen jetzt mit eigenen Augen wie schnell die Wassertemperatur steigt und weshalb für dieses Auto eine andere Lösung gesucht werden musste. Also wurde für den LP 400 das Kühlsystem vergrößert und das Fahrzeug erhielt die Periskop-Lufteinlässe.“ Es war dies eines der vielen kleinen Aspekte, welche die klare und pure Form von Marcello Gandinis ursprünglichem Design der Funktionalität, Leistung und Aerodynamik opferte – bis die Produktion des Countach 1990 eingestellt werden sollte.
Es gab noch viel mehr Unterschiede zwischen dem Prototyp und dem ersten Serienmodell, die beachtet werden mussten. So waren zum Beispiel die Klappscheinwerfer des Show Car nicht funktionstüchtig, folglich konnten auch jene der Recreation nicht bewegt werden. Außerdem bestanden die Heckleuchten aus einer roten Platte hinter der sich der Blinker und die Bremsleuchten verbargen. Auch der Kühlergrill ist anders und das Scharnier der Haube befindet sich hinten. Ein weiterer Eyecatcher sind die großen, wuchtigen Pirelli Cinturato CN12-Reifen. Sie wurden seinerzeit als Prototypen hergestellt und mussten folglich ebenfalls von Pirelli ausschließlich für das LP 500-Projekt nachempfunden und homologiert werden. Öffnet man schließlich die charakteristischen Scherentüren, blickt man in ein umfassend sonderangefertigtes Cockpit. Die quadratisch gemusterten Showcar-Sitze lassen sich auf nur einem anderen Auto entdecken – dem ersten serienmäßigen LP 400, Chassisnummer 001, der sich im Lamborghini-Museum befindet.
„Vorrei, ma non posso“
Das wahrscheinlich interessanteste Merkmal im Innenraum ist das Fehlermeldungssystem links des Lenkrads. Der Bildschirm im iPad-Stil zeigt einen von hinten beleuchteten Bauplan des Autos und versprach, jeden technischen Defekt des Fahrzeugs anzuzeigen. Aber die Elektronik der frühen siebziger Jahre war noch nicht weit fortgeschritten. Tatsächlich handelte es sich bei diesem futuristischen System des Ausstellungsstücks nur um ein Bild, das sich auf Knopfdruck illuminieren ließ. Dasselbe gilt für den Cruise Control-Schalter am Tacho um manuell die Geschwindigkeit einzustellen. „In Italien sagen wir: Vorrei, ma non posso – ich will, aber vermag es nicht“, lacht Stefano Castricini. „Es war ein hübscher Traum.“ Als Bob Wallace später das Auto testete, war das System schon wieder verschwunden. Als es schließlich um die Wahl der Lackfarbe ging, erwiesen sich die PPG-Archive als unerlässlich, denn so wurde es nach sorgfältiger Analyse möglich, die Komposition für dieses Gelb dem Original anzugleichen. Fast schon wie ein Stück Poesie klingt der Name: „Giallo Fly Speciale“.
Ich möchte von Stefano Castricini, der die letzten zwei Jahre intensiv in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verbrachte, wissen, was er über die Arbeitsabläufe und die Produktionsmethoden seiner Vorgänger gelernt hat. „Damals wurden die Entscheidungen sehr spontan getroffen – das gilt vor allem für die: Sollen wir‘s machen? Ja, okay – schon erledigt! Keine Anträge, keine Bürokratie – für sowas blieb kaum die Zeit.“ Letztlich standen ihnen nur zwei Monate für die Konstruktion des kompletten Autos zur Verfügung – die Nachbildung hingegen erforderte 25.000 Arbeitsstunden. Man kann also behaupten, dass der neue Lamborghini Countach LP 500 was Verarbeitungsqualität und Material betrifft besser ist als das Original. „Wir haben dieses Auto so originalgetreu wie nur möglich gebaut“, resümiert Stefano Castricini. „Aber wir wollen hier nichts vergleichen. Dieses Projekt soll eine Hommage sein, in die wir 110 Prozent der Expertise und des Know-how bei Automobili Lamborghini investiert haben, um der Welt zu zeigen, was möglich ist.“ Wenn die Blicke in diesen gelben Donnerkeil versinken, der da vor der Villa d‘Este geparkt ist und seinen Einfluss auf Autodesign und Automobilgeschichte würdigt, dann kann man sich keinen besseren Tribut an eines der größten Autos überhaupt vorstellen. Und mich selbst ist und bleibt er: The One!
Fotos: Rémi Dargegen for Classic Driver © 2021