Eine einzigartige Geschichte
Falls Sie die letzten Monate im Wachkoma oder beim Klettern am Machu Picchu verbracht haben, dürfte ihnen vielleicht eine der wichtigsten Meldungen des Klassiker-Jahres entgangen sein: Mit der „Coppa d’Oro“, dem renommierten Publikumspreis des Concorso d’Eleganza Villa d’Este, wurde in diesem Jahr ein Ferrari 166 Mille Miglia von 1950 ausgezeichnet, der einst Gianni Agnelli gehört hatte. Doch der Industriemagnat und Fiat-Patriarch war nicht der einzige bemerkenswerte Besitzer des kleinen Sportwagens. Auf Agnelli folgte der belgische Graf Gery d’Hendecourt, der mit der Barchetta nicht nur selbst Rennen bestritt, sondern die Zündschlüssel auch vertrauensvoll an seinen Freund Olivier Gendebien weiterreichte. Gendebien, der später gleich viermal bei den 24 Stunden von Le Mans ganz oben auf dem Treppchen stand, gewann mit dem Ferrari in Spa sein erstes Rennen. Später ging die Barchetta in den Besitz des Ferrari-Connaisseurs und Ecurie-Francorchamps-Machers Jacques Swaters über. Sechsmal verkaufte und kaufte er den Ferrari, bevor er sich schließlich entschied, den Wagen für sich zu behalten. Nach einer vollständigen Restauration wurde der geschichtsträchtige Ferrari im Jahr 1993 im New York Museum of Modern Art ausgestellt. Die Swaters-Familie hatte dem Ferrari mittlerweile den Spitznamen „Nonna“ gegeben – die „Großmutter“ blieb insgesamt 46 Jahre in ihrem Besitz.
Design in seiner reinsten Form
Man könnte mit den Besitzern des Ferrari 166 MM ein ganzes Buch füllen – doch natürlich ist es vor allem der erste Mann hinterm Steuer, der die Automobilwelt fasziniert. Der Ferrari 166 MM wurde 1950 als 24. von insgesamt nur 25 Exemplaren gebaut. Zum geheimen Auftrag von Gianni Agnelli – als Fiat-Boss durfte er nicht offiziell bei der Konkurrenz einkaufen – gehörten einige Sonderwünsche, die den Ferrari bis heute auszeichnen: Am auffälligsten sind sicherlich die tränenförmigen Rücklichter und der subtile, bei entsprechender Beleuchtung jedoch atemberaubende Zweifarb-Lack. Darüber hinaus ist die Barchetta ein puristisches Design-Statement in seiner reinsten Form. Ein V12-Motor mit kleinem Hubraum, eine ultradünne Superleggera-Karosserie und ein Fahrer – fertig ist das Erfolgsrezept. Gebaut wurde der Ferrari 166 MM bei der traditionsreichen Carrozzeria Touring in Mailand. Und während die Technik auf dem Ferrari 125S basiert, bezieht sich das „Doppel-M“ im Modellnamen auf den Sieg eines Ferrari 166 bei der Mille Miglia im Jahr 1948. Und die Rennerfolge sollten auch für das neue Modell nicht ausbleiben: 1949 gewann der kleine Sportwagen nicht nur die Mille Miglia, sondern fuhr auch den ersten Platz bei den 24 Stunden von Spa und Le Mans ein. Für Ferrari sollte es der Beginn einer steilen Karriere sein.
Ein Morgen im Juni 1951
Stellen Sie sich nun also vor, es ist ein sommerlich-warmer Junimorgen des Jahres 1951. Sie sind früh aufgestanden und bestellen gegen sieben Uhr gerade ihren ersten Espresso an der Theke der berühmten Cova-Bar in der Mailänder Innenstadt, als plötzlich ein metallisches Brüllen die morgendliche Stille zerreißt. Sie treten auf den Gesteig und sehen zu, wie ein kleiner Sportwagen direkt vor der Bar zum Halten kommt. Heraus springt niemand Geringeres als Giovanni Agnelli, der berühmte Playboy und Enkel des gleichnamigen Fiat-Gründers, des sich nach einer heißen Nacht auf den Straßen von Mailand die nötige Dosis Koffein bestellt, um mit frischen Kräften in den Tag zu starten.
Weckruf eines Zwölfzylinders
Als Fotograf einen Ferrari 166 MM ablichten zu dürfen, ist bereits eine große Ehre. Ihn allerdings kurz nach Einbruch der Dämmerung in den noch leeren Straßen der Innenstadt von Mailand fotografieren zu dürfen, ist wahrlich ein einzigartiges Erlebnis. Wir entscheiden uns für eine Tour auf den Spuren von Gianni Agnelli und begannen unsere Nachtfahrt vor den Toren der Scala, rollten dann hinüber auf die menschenleere Piazza vor dem Mailänder Dom, fuhren entlang nobler Schaufenster in der Galeria Vittorio Emanuele II, holten uns bei Cova den besagten Espresso und drehten schließlich mit dröhnendem Motor unsere Runden um die Porta Sempione, um auch den letzten Mailänder Langschläfer aus dem Bett zu scheuchen. Tatsächlich ist mir das Medium Fotografie nur selten so unzureichend erschienen, wie bei diesem Ferrari: Der helle, metallische Klang des Motors, leichtfüssig, bei steigender Drehzahlnadel jedoch auch kraftvoll-aggressiv, wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.
Der Agnelli-Effekt
Es wundert kaum, dass ein Playboy wie Gianni Agnelli den Ferrari 166 MM so schätzte – der Wagen hat einfach Sexappeal! Überall bleiben die Menschen stehen und staunen, ohne jedoch zu begreifen, welch wichtiges Stück Automobilgeschichte gerade an ihnen vorbei gerauscht ist. Und auch der Ferrari selbst scheint sich hier, im Zentrum der italienischen Kreativindustrie und umgeben von Kulturdenkmälern von Weltruhm, sichtlich wohl zu fühlen. Gut, wir hätten uns vorher um eine Fotogenehmigung kümmern müssen, gerade zu dieser Uhrzeit. Und ja, natürlich tippte uns schon bald der erste Polizist auf die Schulter. Doch ein Satz genügte, um die Situation umgehend zu entschärfen: “Eh, ma è quella di Agnelli!” (ins Deutsch mit „Hey, er ist einer von Agnellis!“ nur unzureichend übersetzt) – und schon traten die Polizisten mit offenem Mund respektvoll einen Schritt zurück und verabschiedeten sich mit einem “Okay, va bene!” zurück auf ihre morgendliche Streife. Mit den großen italienischen Zauberwörtern „Ferrari“ und „Agnelli“ hätten wir den kleinen Barchetta-Sportwagen wahrscheinlich auch ohne Anmeldung im Vatikan fotografieren können.
Photos: © 2015 Rémi Dargegen for Classic Driver