Ein neuer V12 von Ferrari ist immer ein Ereignis. Man denkt sofort an die großen Ikonen der Modellgeschichte: Den Ferrari 125 S von 1947, mit dem alles Begann. Den 250 GTO, der Leistung und Stil in den 1960ern perfektionierte. Den raubeinig-kantigen Daytona der Seventies. Oder, noch ganz frisch, den 599 GTO, mit dem Ferrari die Trennlinie zwischen Straße und Rennstrecke endgültig ausradierte. In diese Ahnenreihe tritt nun ein neues Modell – der Ferrari F12berlinetta. Und natürlich: Der Newcomer ist noch stärker und schneller als alle bisherigen Straßensportler aus Maranello. 740 PS stellen selbst den feuerspuckenden Ferrari Enzo in den Schatten. Und auch der Preis von knapp 270.000 Euro steht in bester Trumpf-Ass-Tradition. Etwas jedoch überrascht: Als erster Ferrari überhaupt ist der F12 kleiner als sein Vorgänger. Fünf Zentimeter kürzer, zwei Zentimeter schmaler, sechs Zentimeter flacher. Und 50 Kilogramm leichter. Sind in der Evolution der Supersportwagen etwa die Grenzen des Wachstums erreicht?
Schlüsselübergabe auf dem Werksgelände von Ferrari in Maranello. Einer von vier roten Vorserien-Prototypen steht bereit. Bis 17:30 sollte ich doch bitte wieder hier sein. Keine Unterschrift, keine Fingerabdrücke, kein werkseigener Beifahrer als Anstandsdame – oh wie schön ist Italia! Es ist das erste Mal seit der Premiere in Genf, dass ich dem F12 in natura gegenüberstehe Und noch immer ist mein Eindruck: Das neue Design ist schlichter und stimmiger als die formalen Experimente der letzten Jahre, die Proportionen sitzen. Und die Form ist funktional. „Die Aerodynamik des Weglassens“ nennen es die Entwickler – Maßnahmen wie die Luftkanäle in den Flanken und das Kamm-Heck haben den Anpressdruck im Vergleich zum 599 GTO um fast 100 Prozent erhöht. Auch im Cockpit wurde aufgeräumt und abgespeckt. Kleiner oder enger ist es jedoch nicht geworden, im Gegenteil: Die Sitzposition ist niedriger, und ich habe trotz 1,90 Metern genug Abstand zum Dach. In italienischen Sportwagen auch heute keine Selbstverständlichkeit. Sogar genug Platz für ein ordentliches Reisegepäck ist vorhanden. Gestartet wird – wie bei Ferrari üblich – über Zündschlüssel und Startknopf. Der Sound ist kernig, bläst einen aber auch nicht aus dem Sitz wie etwa im Lamborghini Aventador. Als Herr über 740 PS und 690 Newtonmeter kann man sich diese Souveränität wohl erlauben.
Eine halbe Stunde später, in den Bergen zwischen Fanano und Pavullo, ist die Situation eine andere: Der F12 ist jetzt ein wildes Biest, mit schier unendlichen Kraftreserven, beängstigendem Durchzug und animalischer Agilität. Auf anfänglichen Respekt folgt ausgelassene Begeisterung. Schon ab 2.500 Umdrehungen liegen 80 Prozent des maximalen Drehmoments an, der Drehzahlbegrenzer springt erst bei 8.700 Touren ein. Dazwischen: Leistung, Leistung, Leistung. Der neue V12-Motor ist dabei nicht bloß brachial, sondern so effizient wie kein Triebwerk zuvor – am Computer haben die Ingenieure an Direkteinspritzung und Zylinderkalibration gedreht und dabei noch die kleinste Unzulänglichkeit behoben. Zum Feuer aus dem Maschinenraum, das man bei sportlicher Fahrt entfacht, setzt irgendwann auch der passende Soundtrack ein – die Audio-Direktleitung aus dem Saugrohr ins Cockpit hilft, den Wagen schließlich nach Gehör zu fahren.
Es ist eine Berg- und Talfahrt wie aus dem Streckenspeicher der Playstation. Auf scharfe Haarnadelkurven folgen sanfte Kehren und lange Steigen, es geht durch alte italienische Dörfer und dunkle Wälder, über Hügel und durch Täler. Und der F12 klebt so hart am Asphalt und bietet einen derart unglaublichen Grip beim Beschleunigen aus Kurven heraus, dass man zwischenzeitlich vergisst, dass unter der Haube vorne ein großer Zwölfzylinder sitzt. Tatsächlich ist es den Entwicklern gelungen, dem F12 durch intelligentes Packaging und Überlagerung der Elemente die ausgeglichene Gewichtsverteilung eines Mittel-Heck-Sportwagens zu verleihen. Das Gefühl, ein kleines und handliches Extremsportgerät zu bewegen, wird zudem durch eine sehr direkte aber auch leichtgängige Lenkung unterstützt, mit der sich der GT fast mit den Fingerspitzen durch die Kurven dirigieren lässt. Das braucht etwas Übung, ermöglicht aber eine fahrdynamische Präzision, die süchtig macht.
Es gibt Momente, da ist die Choreographie der elektronischen Helfer – allen voran eine neue, schnellere Steuereinheit für Dämpferkontrolle, F1 Trac, ESC und E-Diff, die den Wagen in jeder Situation im inneren Gleichgewicht hält – einem fast zu perfekt. Da wünscht man sich die störrische Unberechenbarkeit eines Berlinetta Boxers zurück, in dem der Fahrer der Master of Ceremony war – und nicht der Programmierer. Vielen Kunden in USA und Asien, aber auch in Europa wird es egal sein. Sie schätzen die absolute Beherrschbarkeit. Und es gibt Maßnahmen, um das Fahrerlebnis zu emotionalisieren. Das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe etwa schaltet so smooth und störungsfrei, dass die Ingenieure den Leistungsschub beim Gangwechsel durch ein kleines Extra-Drehmoment reproduzieren. Ein kleiner Trick mit großer Wirkung.
Wo also lässt sich der Ferrari F12 einordnen? Kraftvoller und souveräner als der 458 Italia ist er, wenn auch weniger hart und laut. Im Vergleich zum FF ist er fokussierter und vor allem kompakter, mit deutlichen Rennstrecken-Ambitionen. Und außerhalb von Maranello? Der Lamborghini Aventador spielt in der gleichen Klasse, bietet ebenfalls brutalen Schub und Fahrspaß bei gleichzeitiger Beherrschbarkeit. Doch er ist und bleibt ein wütender Stier, während der F12 auch als komfortabler Reisewagen für den Wochenend-Trip genutzt werden kann. Wie schon der Ferrari 250 GTO, wie schon der Daytona. In diesem Sinne steht auch die Reduktion auf das Wesentliche, die Besinnung auf die Funktion, das Ende des Wachstums. Ob Ferrari dieser Linie treu bleibt, wird sich in wenigen Monaten mit dem Nachfolger des Enzo zeigen.
Fotos: Jan Baedeker / Roberto Carrer