Als letzter unter der persönlichen Leitung von Ferruccio Lamborghini vorgestellte Lamborghini-V12 mit Frontmotor steht der Jarama bis heute im Schatten des glamouröseren Miura. Vor 50 Jahren wurde der nach der vom gleichnamigen Fluss durchzogenen Region nördlich von Madrid benannte GT auf dem Genfer Salon des Jahres 1970 vorgestellt. Bertone und Marcello Gandini zeichneten für das Design verantwortlich – es war nach Espada und Miura ihr dritter Lamborghini, doch im Vergleich zu den extrem extravaganten früheren Entwürfen ein eher konventioneller Sportwagen.
Bertones Styling für den Jarama kann man als aggressiv und kompakt umschreiben. Die eckige Frontpartie mit abgerundeten Ecken wurde von mit kleinen Augenlidern halb bedeckten Scheinwerfern dominiert. Anders als zum Beispiel beim Alfa Montreal schwenkten die Bleche allerdings hier nicht nach oben weg, sondern kippten nach unten. Die drei Viertel Ansicht von hinten zeugte von der Trapez-Form des Jarama, während die kleine Abrisskante am Heck einen symbolischen Touch aerodynamisches Flair versprühte. Dank des großzügigen Glashauses bot der Jarama eine exzellente Rundumsicht. Um ausreichende Frischluft ins Innere zu leiten, wurden zwei NACA-Düsen in die Haube gestanzt. Miura-Felgen komplettierten die Optik, während am Heck offenbar aus Kostengründen die Rückleuchten des Fiat 124 Coupés der zweiten Serie verbaut wurden.
Mit der Vorstellung des Jarama 400 GTS im Jahre 1972 erhielt die Haube einen zusätzlichen Lufteinlass, dazu kamen seitliche Lüftungsschlitze in den vorderen Kotflügeln sowie neue Felgen mit fünf Bolzen, sprich ohne Zentralverschluss. Lamborghinis technischer Direktor Paolo Stanzani gestand, dass das Design des Jarama seinem eigenen ästhetischen Empfinden entsprach, „eine klassische Schönheit“. Doch erkannte er bald, dass dies nach dem Miura ein Fehler war – der Jarama erfüllte nämlich nicht die Erwartungen der Lamborghini-Kunden. Hier liegt auch der Grund für das radikale und provokante Design des nur ein Jahr später folgenden Countach.
Der Jarama teilt sich den Plattformrahmen aus Stahl mit dem Espada, gleichwohl auf einem 270 Millimeter kürzeren Radstand. Was ihn ausgesprochen agil macht. Der 3,9 Liter große V12 des 400 GT leistet 350 PS bei 7500 U/min; im 400 GTS sind 365 PS am Werk. Die Mehrzahl der GTS wurde mit einer ZF-Servolenkung ausgestattet, einige mit einer Dreistufen-Torque Flite-Automatik von Chrysler bestückt und 20 GT wurden mit zwei herausnehmbaren Dachhälften (T-bar-roof) zu halben Cabrios. Nur 177 Jarama GT wurden verkauft; vom GTS verließen sogar nur 150 das Werk, macht zusammen nicht mehr 327 Stück.
Diese Bullen durch die britische Landschaft zu fahren, ist eine wahre Freude. Das grüne Modell wurde beim Markenspezialisten Iain Tyrrell komplett restauriert, auch das silberne Auto, vermutlich unter allen noch zugelassenen Jarama jenes mit dem niedrigsten Kilometerstand, erhielt von Iain und seinem Team eine gründliche Auffrischung. Beide präsentieren sich in einem exzellenten Zustand.
Doch hören wir Ferruccio Lamborghini selbst, in einem Interview mit dem Magazin Thoroughbred & Classic Car vom Januar 1991. „Ich habe den Jarama allen anderen vorgezogen, weil er der perfekte Kompromiss zwischen Miura und Espada ist. Der Miura ist ein Sportwagen für jene, die jung im Herzen sind, ein Höllentempo lieben und gerne mit dem Auto gesehen werden. Ich persönlich empfand den Miura eine Zeit lang als zu extrovertiert. Der Espada wiederum war mein Rolls-Royce: auch sehr schnell, aber groß und komfortabel. Der Jarama ist perfekt, wenn man einfach nur EIN Auto möchte.“ Was mehr könnte jemand dazu noch sagen?
Es ist schade, dass Lamborghini auf das 50-jährige Jubiläum des Jarama mit keinem Wort eingeht, geschweige denn es feiert. Will man vielleicht so nicht die Möglichkeit andeuten, in nicht allzu ferner Zukunft wieder einen Jarama Nachfolger, also ein Modell mit Frontmotor, vorzustellen? Nun, das wäre doch ein Gedanke...
Fotos: Robert Cooper für Olivier Nameche © 2020