Ist es nicht großartig zu sehen, wie sich Lamborghini entwickelt? Die Modellpalette ist die beste und vielfältigste aller Zeiten – noch in diesem Jahr weiter verstärkt durch die Einführung des Urus-SUV -, die finanziellen Sorgen sind ein Ding der Vergangenheit und Wartelisten rollen sich weltweit aus. Für dieses Jahr plant die Marke aus Sant’Agata Bolognese den Absatz von 7.000 Autos. Zum Vergleich: Noch 2007 waren es nur 2.400 und weitere zehn Jahren früher – noch unter einem indonesischen Eigner – rollten gerade mal 209 Diablo ans Tageslicht.
Die Schutzengel
Während die unter dem Schirm des VW/Audi-Konzerns revitalisierte Sportwagenmarke ihren Fokus klar auf die Zukunft richtet, erkennt man auch die Bedeutung des Schutzes und der Bewahrung einer großen Vergangenheit. Eine Aufgabe, die der nun offiziell eröffneten neuen Classic Polo Storico Abteilung zukommt. „Wir glauben, dass es sehr wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass Lamborghini nur so stark werden konnte, weil wir solch unglaubliche Autos gebaut und mit ihnen die Welt des Designs und der Produktion beeinflusst haben,“, sagt Stefano Domenicali, Ex-Ferrari-Formel 1-Teamchef und CEO von Lamborghini. „Wir schätzen den hohen Wert dieser rund um die Welt existierenden historischen Autos und denken, dass dies das letzte Teil eines Puzzles bei der Entwicklung des Lamborghinis der Zukunft ist.“
Das Polo Storico wurde vor dem Hintergrund des boomenden Marktes für Klassiker gegründet und soll sich ganz besonders um die fast 10.000 Fahrzeuge kümmern, die bis zur Einstellung des Diablo im 2001 das Werk verlassen haben. Wenn man bedenkt, dass ein Miura inzwischen zwölf Mal so viel Wert ist wie noch 2004 und der Gesamtwert all dieser Wagen allein seit 2012 von 2,1 auf 3,5 Milliarden Dollar angestiegen ist, erscheint die neue Initiative nur allzu logisch. Doch steht das finanzielle Motiv nicht allein im Vordergrund, sondern vielmehr der Erhalt und die Integrität der Lamborghini Geschichte und der in den ersten 40 Jahren produzierten Fahrzeuge.
Zweistufiges Komitee aus Markenexperten
Polo Storico, in Sant’Agate Bolognese rund um das große historische Archiv des Unternehmens errichtet, operiert mit drei Geschäftsbereichen: Einem Restaurierungs-Center, einer Abteilung für Heritage und Ersatzteile sowie einem Gremium, dass sich mit Zertifizierungen für historische Lamborghini-Modelle beschäftigt und die Verifizierung der historischen Produktionsprozesse und der korrekten Spezifikationen überwacht.
Die Authentizität der Fahrzeuge und ihrer Komponenten unter Zuhilfenahme des Archivs sowie weiterer Unterlagen, die die Herkunft und Echtheit der Wagen bestätigen können. Als oberstes Steuerungsorgan fungiert das „Comitato dei Saggi”. Es legt die allgemeinen Richtlinien fest und kontrolliert und genehmigt die von der zweiten Ebene („Comitato Tecnici”) gemachten Vorschläge. Gegründet wurde es zum Gedenken an den am 18. Januar im Alter von 80 Jahren verstorbenen Paolo Stanzani. Jenem Ingenieur, der als „Vater des Miura“ zusammen mit Giampaolo Dallara und Marcello Gandini den legendären Sportwagen hervorbrachte. „Stanzani ist ein festes Mitglied der Lamborghini Geschichte“, sagt Domenicali, „und wir müssen über die Menschen, die mit ihren Ideen und ihrer Passion den Unterschied ausgemacht haben, reden und an sie erinnern.“ Das Komitee umfasst drei Experten mit Lambo-Blut in den Adern: Maurizio Reggiani, aktueller Leiter für Forschung & Entwicklung, Giampaolo Dallara (von 1963 bis 1969 technischer Leiter bei Automobili Lamborghini) und Mauro Forghieri, von Ende der 80er bis in die 90er Jahre technischer Leiter der Motorsportabteilung Lamborghini Engineering.
Das Comitato dei Saggi ist dafür verantwortlich, wie die Firma ihre Vergangenheit zertifiziert. Mit Wissen aus erster Hand und akkuraten und authentischen Informationen, die nur jene liefern können, die an diesen Wagen tatsächlich noch mitentwickelt und mitgebaut haben. Das Comitato Tecnici, zusammengesetzt aus internen Teams der Bereiche F&E, Design, Produktion und anderen Abteilungen, wird auch von externen Experten unterstützt. Das Aufgabenfeld umfasst die Suche und Dokumentation sämtlicher historischer Daten, einschließlich Konstruktionszeichnungen und Produktionsunterlagen, technischer Daten, Lieferanten und sogar Informationen aus Archiven, die Marken-, Presse- und Veranstaltungsmaterialien umfassen.
Originalität steht über allem
Bei Wartung, Restaurierung oder einer Zertifizierung stehen zunächst die Wünsche des Kunden im Vordergrund. Doch wird Lamborghini immer versuchen, die Kunden davon zu überzeugen, den Wagen so originalgetreu wie irgend möglich zu belassen. Wie die originale Außenfarbe oder die Farbe und Narbung des Leders. „Wir schlagen vor, dass so viel wie möglich von dem Zustand, in dem das Auto bei uns angeliefert wurde, erhalten bleibt“, sagt Paolo Gabrielli, Leiter von Lamborghini Aftersales und damit auch dem Polo Storico. „Ich bin kein großer Fan des ‚Wow’-Faktors und ziehe es vor, das Auto zu erhalten. Doch in vielen Fällen kommen Kunden mit einem so schlecht gepflegten Wagen zu uns, dass uns nur die Möglichkeit einer Totalrestaurierung bleibt. Doch versuchen wir auch dann, so viele Original-Teile wie möglich zu retten.“
Richtig oder falsch
Genauso würde der Polo Storico niemals ein Fahrzeug ohne matching numbers für Motor oder Getriebe zertifizieren. Es sei denn, durch einen Garantieanspruch oder Werkstattunterlagen kann nachgewiesen werden, dass es sich um ein Original-Lamborghini-Teil handelt, installiert im Werk und mit dem Segen der dortigen Ingenieure. Und natürlich sei es auch nicht möglich, eine korrekte Nummer nachzudrucken, egal wie viel der Kunde bereit sei dafür zu zahlen, betont Gabrielli. „Wir haben die Produktionsstücklisten von jeder Baureihe, alles auf Basis von Wissen aus erster Hand. Aus diesem Grund handelt es sich um einen sehr strengen Prozess. Es gibt ungefähr 190 Checkpunkte, viele müssen schon vor Beginn des eigentlichen Prüfvorgangs behandelt werden.“
Selbstverständlich, dass für die Arbeit im Werk Originalteile verbaut werden, entweder aus alten Lagerbeständen oder mit neu nach Original-Spezifikationen und -Unterlagen nachgefertigten Teilen. Und natürlich werden dann die Herstellungs- und Montageverfahren von damals angewandt. Für Arbeiten, die nach draußen vergeben werden – wie zum Beispiel für den Karosseriebau oder die Lackierung – werden nur Spezialisten verpflichtet, die schon in der Vergangenheit zu Rate gezogen wurden. Wie beispielwiese die Cremonini Carrozzeria.
Niemand hinters Licht führen
Nachdem Lamborghini Polo Storico quasi auf einem weißen Blatt Papier konzipiert hatte, sprach man einige renommierte Sammler an, um zu erfahren, welche Informationen sie auf einem Authentizitäts-Zertifikat gerne sehen würden. Die Antwort: Nur die tatsächlich durchgeführten Checks sollten aufgeführt werden, die Restaurierung – falls durchgeführt – sollte in einem separaten Booklet. Das sollte - theoretisch – leicht und unzweideutig jeden Disput auf einer Concours-Bühne vorbeugen. Hat ein Auto „non-matching“-Details, weiß Polo Storico, ob diese korrekt sind oder nicht. Zum Beispiel trugen die ersten zwölf bis 350 GT ein rot-weißes Emblem, wie die Traktoren, auf die sie folgten. Doch kam es vor, dass auch noch einige spätere Fahrzeuge das gleiche Wappen erhielten, weil noch Restbestände auf Lager waren. Auch solche Kleinigkeiten sind auf jedem Produktionsblatt vermerkt, sodass die Zertifizierung genau Auskunft über die Echtheit geben kann.
Zentralnerv der Lamborghini-Historie
Das ultimative Versprechen von Polo Storico lautet daher: Kann die Originalität eines Fahrzeugs zertifiziert werden, wird und soll sie das seinen Wert in die Höhe treiben. Für Enthusiasten und Sammler eröffnet das die schöne Perspektive, diese Kampfstiere in Zukunft wieder verstärkt wie zum Zeitpunkt ihrer Geburt einsetzen und genießen zu können. Polo Storico ist daher mehr als nur ein einfaches Restaurierungscenter und Archiv – es ist der Lebensnerv der großen Lamborghini Geschichte und ein Geschäftszweig, der angesichts des weiter stark steigenden Interesses an historischen Autos nur weiterwachsen kann. Lamborghini mag auch in der Gegenwart außergewöhnliche Supersportwagen bauen – doch sind es neben dem unsterblichen Miura vor allem die scharfkantigen Countachs und Diablos mit ihren Scherentüren, die für immer einen Platz in der teuflischen Kammer unseres Herzens behalten werden.
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2017