Als viermaliger Weltmeister scheint Fangio mit Bedacht in dieses Rennen gestartet zu sein. Schon gleich nach der Startlinie kämpfen die Ferraris von Mike Hawthorn und Peter Collins verbissen um die Führung und schenken somit Fangio die Gelegenheit, ihre Fahrtechniken von seiner dritten Position aus zu studieren. Nach dem Rennen erinnert sich der große Pilot: „Ich war überrascht, wie sie sich immer wieder gegenseitig überholten, anstatt als Team zu kooperieren. Statt zu überlegen, wie man nach vorne gemeinsam absichert, duellierten sie sich um die Führung.”
Kämpfen oder kapitulieren
Anfangs der dritten Runde hat Fangio alles verstanden, überholt die Ferraris und baut seinen Vorsprung auf sieben Sekunden pro Runde bis zur zwölften Runde aus. Anders als die voll betankten Ferraris, die für die 22 Runden keinen Tankstopp geplant haben, setzt der Argentinier auf die „Sprint-Strategie” mit einem Boxenstopp. Und der wird zum Desaster. In einer Art von kollektivem Fremdschämen verfolgte das Publikum wie ein Mechaniker beginnt, das linke Hinterrad zu lockern und eine Radmutter, ohne dass dieser es bemerkt, unter dem Auto wegrollt. Es dauerte fast eine halbe Minute, ehe das flüchtende Teil entdeckt und gesichert ist. Endlich kann Fangio wieder zurück auf den Kurs fahren, doch zu diesem Zeitpunkt liegt er bereits 48 Sekunden hinter den Ferraris - und nur mehr zehn Runden vor dem Finish. Aber zur Verblüffung der Menge treibt der Weltmeister seinen Maserati an die Grenzen und stellt Runde um Runde einen neuen Rekord auf. „Ich begann, die höheren Gänge einzulegen. Es war nicht sonderlich angenehm, weil ich in jeder Kurve Grip verlor, aber ich musste einfach siegen.”
Eine Chance
Gleich zu Beginn der vorletzten Runde überholt Fangio Collins und taucht ganz dicht hinter Hawthorn auf. „Ich hängte mich an sein Heck und überlegte, wie viele Chancen mir noch zum Überholen blieben. Dann war die Gelegenheit da. Nach einer Reihe von Kurven kam eine kurze Gerade, die in eine 90-Grad-Linkskurve mündete mit einer anschließenden ebenso engen Wende nach rechts. Auf dem geraden Stück zog Hawthorn nach rechts um die Kurve im optimalen Winkel anzufahren. Ich ergriff meine Chance und zog sofort nach innen.” Dieses gewitzte Fahrmanöver gibt Fangio einen wichtigen Vorteil: Er sichert sich die Führung im Feld, die er bis zum Ziel nicht mehr abgeben wird. Damit wird er zum Held eines der berühmtesten Comebacks während eines Rennverlaufs, welche die Motorsportgeschichte bis heute kennt. „Wissen Sie”, berichtete Fangio später. „Der Nürburgring war ohne Frage immer mein Lieblingskurs. Ich liebte ihn, ich liebte alles an ihm, und an diesem Tag habe ich ihn erobert. An einem anderen Tag hätte er mich besiegt. Wer weiß das schon? Aber an diesem Tag habe ich mich und dieses Auto ans Limit getrieben - und vielleicht noch darüber hinaus. Ich bin vorher noch nie so gefahren, und ich wusste, das würde mir auch nie wieder gelingen.”
Fotos: Maserati / Getty Images