Es gibt sie noch, die legendären Grand Hotels der Alpen, in deren Salons, Zimmern und Fluren der Geist der Belle-Époque noch immer lebendig ist. Eines der glamourösesten und gleichzeitig geheimnisumwobensten Grand Hotels der Welt findet sich in Sils Maria. Hoch über dem Dorf Sils thronend, blickt man aus den Zimmern über die geradezu unwirklich schöne Berg- und Seenlandschaft des Oberengadins, die sich – je nach Saison – in sattem Grün, tiefem Orange oder blendendem Pulverschneeweiß präsentiert. Seit seiner Eröffnung im Jahr 1908 im Besitz derselben Familie, ist das Waldhaus Sils eines der charmantesten, persönlichsten und schönsten Grand Hotels in Europa, wenn nicht gar weltweit. Während andere Sternehäuser auf modernen Luxus getrimmt wurden, setzt die Betreiberfamilie noch immer auf eine einmalige Mischung aus Luxus und Bescheidenheit, historischem grandeur und augenzwinkerndem Humor. Um ein automobiles Bild zu bemühen: Hier fährt man mit dem betagten Bristol oder dem staubigen Mercedes-Kombi vor – auch wenn man sich eine ganze Ferrari-Flotte leisten könnte.
Der malerische Südzipfel des Engadins, wo nur noch die Serpentinen des Malojapasses den Reisenden von der Alpensüdseite und den norditalienischen Seen trennen, zog Künstler und Literaten schon immer magisch an. Friedrich Nietzsche schrieb hier seinen "Zarathustra", und zu den Gästen des Waldhauses gehörten die großen Intellekturellen des 20. Jahrhunderts, von Thomas Mann, Kurt Tucholsky bis Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, von Albert Einstein bis Max Liebermann, von Luchino Visconti bis Joseph Boys. Es gehört zum Mythos des Waldhauses, dass man beim Nachmittagstee samt Orchesterbegleitung ganz selbstverständlich den Dichtern und Denkern seiner Zeit zunicken – oder Gerhard Richter und Alexander Kluge dabei belauschen kann, wie sie während der Winterfrische spontan ein gemeinsames Buchprojekt gegen die Langeweile ersinnen.
Es passt zum unkonventionellen Geist des Waldhauses, dass kein runder, sondern ausgerechnet der 111. Geburtstag mit einem Erzähl- und Bildband gefeiert wird. Herausgegeben wurde das elegante, in Leinen gebundene Buch mit dem vielsagenden Titel "111 Jahre Hotel Waldhaus Sils – Geschichte und Geschichten zu einem unvernünftigen Familientraum" von Urs Kienberger, Urenkel der Waldhaus-Gründer Amalie und Josef Giger-Nigg. Das bei Scheidegger & Spiess erschienene Buch versammelt historische Wegmarken ebenso wie aufschlussreiche und amüsante Anekdoten aus der Hotelgeschichte – und wer nicht sowieso schon zu den Stammgästen des Waldhauses gehört, wird nach dieser Lektüre sicherlich nicht der Versuchung wiederstehen können, sich bei den freundlichen Rezeptionisten ein Zimmer reservieren zu lassen.