Die Finnen sind ein streitlustiges Volk. Die zahllosen Überfälle von russischer Seite in der Geschichte des Landes – so erzählte es uns zumindest einmal der legendäre Rallyeprofessor Rauno Aaltonnen an einem fröhlichen Abend an einer Hotelbar – haben dazu geführt, dass sich die Finnen nur äußerst ungern die Butter vom Brot nehmen lassen und jederzeit bereit sind, Haus, Hof und Ehre mit den Fäusten zu verteidigen. Dass im Land der weltbesten Winterfahrer nun ausgerechnet ein junger Mann von der Mittelmeerküste in einem italienischen Sportwagen einen Geschwindigkeitsrekord auf Eis und Schnee aufstellte, der fast 20 Jahre bestehen bleiben sollte – darauf waren die wehrhaften Finnen nun wahrlich nicht vorbereitet.
Mitte der Neunzigerjahre war Gildo Pallanca Pastor auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Seit fast einem Jahrzehnt war der automobilbegeisterte Spross einer einflussreichen und wohlhabenden monegassischen Dynastie nicht nur im Immobiliengeschäft der Familie, sondern auch als Amateurrennfahrer aktiv. Mit dem Aufkommen der ersten Sportwagen mit Allradantrieb kam Pastor die Idee, man könne ja nun auch problemlos auf Eis und Schnee die Grenzbereiche der Beschleunigung erkunden – und nebenbei gleich noch einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen. Zunächst fiel die Wahl auf einen Porsche 911 Turbo. Doch hatte Pastor unlängst bei der wenige Jahre zuvor im italienischen Campogalliano auferstandenen Traditionsmarke einen Bugatti EB110 Supersport bestellt, um mit diesem in der IMSA-Langstreckenmeisterschaft anzutreten. Bei näherer Betrachtung erschien die leichtere und stärkere Version des Supersportwagens mit seinem Allradantrieb, dem rund 600 PS starken 3,5-Liter-V12-Motor mit seinen vier Turboladern und einer Höchstgeschwindigkeit von 355 km/h jedoch auch prädestiniert für einen Rekordversuch auf Eis und Schnee.
Am 3. März 1995 stand der gerade einmal 28 Jahre alte Monegasse auf einem gefrorenen See in der Nähe der Finnischen Stadt Oulu und ließ die Tür seines Bugatti EB110 SS in den Himmel steigen. Im Werk hatte man die Übersetzung der Antriebsachsen geändert und zusätzlichen Ballast an Bord genommen, ansonsten entsprach der Wagen der Serie. Selbst auf Spikes hatte Gildo Pallanca Pastor verzichtet – normale Straßenreifen mussten genügen. Und tatsächlich gelang ihm das Kunststück: Auf der sieben Kilometer langen Eisbahn erreichte er eine Geschwindigkeit von 315 km/h. Auch wenn die Zahl später von der FIA auf 296,3 km/h heruntergerechnet wurde, stand der „Ice Speed Record“ bis März 2013, als die Bugatti-Rekordfahrt von einem Audi RS6 geschlagen wurde. Kurz darauf erinnerte sich Pastor in einem monegassischen Magazin an das eisige Abenteuer: „Es war eine ziemlich verrückte Fahrt, denn ich konnte am Ende der Strecke die Wellen branden sehen. Die größte Hersuforderung war es, am Schluss nicht im Wasser zu landen. Auch die Rentiere, die mitunter die Strecke kreuzten, waren eine Gefahr. Auch die Finnen waren ziemlich überrascht, dass sie ein Monegasse auf dem Eis geschlagen hatte.“
Im Februar 2016 wurde der Bugatti EB110 SS Eisrekordwagen von Gildo Pallanca Pastor im Rahmen der Rétromobile in Paris für rund 900.000 Euro versteigert. Käufer war der deutsche Unternehmer und Rennfahrer Stefan Rehkopf, der den ungewöhnlichen Wagen nun für eine kleine, aber exklusive Bugatti-Ausstellung zurück nach Monaco gebracht – und uns vorher auf eine Spritztour in die Berge im Hinterland eingeladen hat. „Ich war überrascht, den Wagen in Paris relativ günstig inklusive zweitem Motor, Getriebe und Differenzial ersteigern zu können“, berichtet uns Rehkopf während unserer Fahrt. „Bei Brabus in Bottrop – schon in den Neunzigerjahren ein Servicestützpunk für den EB110 – ließ ich ihn erst einmal gründlich durchchecken und eine große Inspektion durchführen. Neben ein paar Kleinigkeiten wurden wir auf Risse in den Magnesiumfelgen aufmerksam. Dies führte dazu, dass ich den Wagen nur äußerst langsam bewegen konnte, bis ich von BBS einen neuen Satz Felgen geliefert bekam. Gleichzeitig fertigte Michelin eine neue Serie des damals zugelassenen Straßenreifens an. Nun ging es schon etwas zügiger voran.“
Stefan Rehkopf, der seit rund 20 Jahren im Motorsport aktiv ist, besitzt noch andere Supersportwagen, die er regelmäßig im Grenzbereich und auf der Rennstrecke bewegt – doch der Bugatti fasziniert ihn besonders: „Ich hörte zunächst, dass der EB 110 eine ungeheure Traktion bei hohem Fahrkomfort bieten soll. Gleichzeitig war bekannt, dass Bugatti mit seinem damaligen italienischen Besitzer Romano Artioli sehr progressiv gewesen war und alles am Auto selbst entwickelt hatte. Das machte mich sehr neugierig.“ Auch wenn der Eisrekordwagen erst wenige Tausend Kilometer auf dem Tacho hat, ist es gerade das Fahrerlebnis, dass Rehkopf – der auch schon in Le Mans gestartet ist – fasziniert: „Es ist der Fahreindruck, der den EB110 vom spartanischen Ferrari F40 unterscheidet. Man hat die gleiche Leistungscharakteristik, fühlt sich aber wie in Abrahams Schoß.“ Vor allem die Gewichtsverteilung von Mittelmotor und Allradantrieb hält der neue Besitzer für gelungen – auch wenn man dem Wagen seine 1600 Kilo bei zügiger Fahrt in engen Kurven und auf Alpenstraßen durchaus anmerkt. „Auch die Geräuschkulisse ist im EB110 ganz typisch und unverwechselbar. Man hört die schwimmenden Bremsscheiben bei langsamer Fahrt auf Kopfsteinpflaster deutlich und das nach vorn laufende Differenzial pfeift bei warmem Getriebe. Die Aussengeräusche halten sich vornehm zurück, doch geht der Motor auf volle Leistung, hört man das typische Turbofauchen aus dem Auspuff. Ein tolles Spektakel, vor allem in Tunneln! Das Abblasen des Turbodruckes, welches der F40 oder der Veyron zelebriert, ist eher dezent.“
Als Stefan Rehkopf den Bugatti in Paris ersteigerte, hatte er gerade einmal 1.373 Kilometer auf dem Tacho. Dennoch scheut er sich nicht, den Wagen mit beherztem Gasfuß über die bröckelnden Bergstraßen im Hinterland von Monte Carlo zu steuern. „Ich halte die Strategie, Autos mit möglichst wenig Kilometern zu kaufen und zu bewahren, für falsch. Ein Fortbewegungsmittel, das zum Stillstand verdammt ist, ist zu bedauern. Für mich ist das vergleichbar mit Raubtieren im Zoo. Dafür wurden sie nicht gemacht. Ich bewege alle meine Autos mindestens ein bis zwei Tankfüllungen im Jahr und freue mich darüber, in so einer glücklichen Situation zu sein, manchmal wie ein kleines Kind. Ich benutze meine Supersportwagen auch gerne, um damit das Bild einer Stadt zu bereichern und das Interesse von Passanten zu wecken. Was für ein Szenario, als wir mit dem Wagen im abendlichen Verkehr über die Promenade des Anglais durch Nizza fuhren! Im Grenzbereich habe ich den EB110 allerdings noch nicht bewegt.“
Bei aller Freude am Fahren sind die Supersportwagen der 1980er und 1990er Jahre für viele Sammler, Händler und Auktionshäuser natürlich auch Spekulationsobjekte. Doch während die Preise für den McLaren F1 immer neue Höhen erklimmen, bleibt der kaum weniger faszinierende Bugatti EB110 noch immer vergleichsweise erschwinglich. Auch Stefan Rehkopf bescheinigt dem Bugatti in dieser Hinsicht noch Potenzial: „Ich glaube, dass der EB110 und vor allem die Super-Sport-Variante auf dem kleinen Markt der Supercars ihrer Zeit eine Alleinstellung haben. Das Setup und der Allradantrieb ermöglichten Fahrsicherheit bei allen Wetterverhältnissen und hohen Komfort. Das war in dieser Liga bis dato nicht zu finden. Betrachtet man den Wert eines McLaren F1 bei sehr niedriger Stückzahl und eines Ferrari F40 bei sehr großer Stückzahl, so ist doch verwunderlich, dass der EB 110 noch so günstig gehandelt wird.“ Und während der monegassische Eisrekordwagen im Hafen von Monaco für ein letztes Fotoshooting posiert, können wir nur zustimmen: Sein großes Comeback dürfte der Bugatti EB110 noch vor sich haben.
Fotos: Rémi Dargegen für Classic © 2018