Nie zuvor in der Geschichte des Automobils hatten Designer so viele Freiheiten wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts – und nie zuvor waren sie derart vielen Beschränkungen unterworfen. Neue Antriebstechnologien, die digitale Revolution und eine globale Gesellschaft im Wandel könnten ein idealer Nährboden sein, um die heutige Form des Automobils grundsätzlich in Frage zu stellen und das Rad völlig neu zu erfinden. Gleichzeitig haben die Prozesse der industriellen Fertigung, die Auflagen für die weltweite Homologation und die Anforderungen von Wertschöpfung und Vermarktung einen nie geahnten Grad an Komplexität erreicht. Echter Innovationsgeist muss sich in diesem System gegen enorme Widerstände durchsetzen.
Kreativer Ungehorsam
Immer wieder in der Geschichte des Automobils haben Designer die etablierte Ordnung und gewohnte Formensprache mit radikalen Entwürfen in Frage gestellt. Oft waren es konzeptionelle Designstudien und Showcars, experimentelle Prototypen und Einzelstücke, an denen sie neue Ideen ausprobierten, ohne den Zwängen der industriellen Produktion direkt unterworfen zu sein. Manche dieser Entwürfe inspirierten Generationen von Gestaltern, fanden tatsächlich den Weg in die Serie und veränderten die automobile Landschaft auf lange Zeit. Andere waren schnell wieder vergessen und verstaubten als skurrile Zeitgeist-Artefakte in Lagerhallen und Garagen. Manchmal fand von einem revolutionär gedachten Automobilexperiment zumindest ein skulpturaler Türgriff oder eine futuristische Radkappe den Weg auf die Straße.
Gemeinsam haben diese Autos jedoch alle, dass sie ihre Zeitgenossen zum Nachdenken anregten – und oftmals selbst in den konservativsten Führungsetagen und technokratischsten Ingenieursstuben kreative Energien freisetzten. Ohne die mutigen Ideen und Impulse einzelner Designer, das kann man mit Fug und Recht behaupten, wäre die Automobilgeschichte anders verlaufen. Querköpfe wie Harley J. Earl, Battista „Pinin“ Farina, Franco Scaglione, Paolo Martin, Marcello Gandini, Giorgetto Giugiaro – sie alle haben den Status Quo ihrer Zeit in Frage gestellt und unsere basale Vortellung vom Aussehen eines Automobils bis heute geprägt.
Denken ohne Grenzen
Der Blick zurück auf die mutigsten, waghalsigsten und radikalsten Entwürfe zeigt aber auch, dass Automobildesign nicht im luftleeren Raum stattfindet – und das Innovation ein gesellschaftliches wie unternehmerisches Umfeld braucht, das echte Erneuerung ermöglicht. So sind es gerade die Concept Cars, die uns viel über den Geist ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft verraten. Als in den 1930er Jahren die ersten Ingenieure, Künstler und Architekten mit der Formensprache des Karosserie zu experimentieren begannen, hatte das Automobil seinen Siegeszug gerade erst begonnen. Inspiriert vom Zeitgeist des Art Déco, wurden aus funktionalen Motorkutschen auf Rädern plötzlich rollende Skulpturen von umwerfender Schönheit und Eleganz – die Grenze zwischen Technik und Kunst war überschritten.
Dem Schaffen der schöngeistigen Automobildesigner wurde mit dem Zweiten Weltkrieg ein jähes Ende bereitet. Während der automobile Glamour und die grenzenlose Opulenz der Vorkriegskarossen für immer verloren war, sorgte die Militärmaschinerie für enorme technischen Entwicklungen der Luft- und Raumfahrt. Die Düsenjets und Raketen sollten das Automobildesign in den Jahrzehnten nach Kriegsende zu völlig neuen Formensprachen inspirieren. Mit welchen Träumen und Hoffnungen, Wünschen und Ideen man in den 1950er Jahren in Amerika in die Zukunft blickte, lässt sich in den raketenhaften Automobilstudien von General Motors ähnlich gut ablesen wie in den Science-Fiction-Filmen und Comicheften dieser Zeit.
Von Straßenraketen zu Kantenkeilen
Die keilförmigen, rasiermesserscharfen und oftmals kaum hüfthohen Konzeptautos, die in den 1960er und 1970er Jahren bei Studios wie Bertone, Italdesign und Pininfarina kreiert wurden und zu den gewagtesten Formexperimenten der Automobilgeschichte gehören, waren wiederum von der Architektur und vom experimentellen Produkt- und Möbeldesign ihrer Zeit inspiriert. Ohne eine Designkultur, die sich intensiv mit geometrische Formen und ihren Relationen zueinander beschäftigte, wären radikale Kantenkeile wie der Lancia Stratos Zero, der Maserati Boomerang oder der Ferrari Modulo kaum denkbar gewesen. Die Freiheit, keiner einzelnen Marke unterworfen zu sein, gab den Designstudios zudem ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten.
In den 1980er Jahren hielten in der westlichen Gesellschaft neue Technologien Einzug. Während die klaren geometrischen Formen des vorangegangenen Jahrzehnts den Look der Straßenautos vom VW Golf bis zum Ferrari Testarossa prägten und mit den kantigen Schulterpolstern der zeitgenössischen Mode korrespondierten, versuchten sich die Designer bei ihren Konzeptstudien an organischen Formensprachen und experimentellen Proportionen. Ihr Blick richtete sich zudem auf die Innenräume, wo sie mit Bildschirmen und digitalen Armaturen den Geist der Zukunft vorwegnahmen. Die postmoderne Tendenz zur Retrospektive wiederum spiegelt sich in den Designstudien der 1990er Jahre. In den Kreativabteilungen hatte man die Automobilgeschichte als unerschöpflichen Ideenfundus entdeckt – die Referenz an die Ikone von einst trat an die Stelle echter ästhetischer Innovation.
Die Kinder der digitalen Revolution
Die Vielfalt der ästhetischen Strömungen hat seit der Jahrtausendwende zu einem wahren Formenflimmern im Automobildesign geführt. Gleichzeitig hat sich der Fokus der Designstudios unter dem wachsenden Einfluss des Marketings von der Modell- auf die Markenidentität ihrer Autos verschoben. Mit austauschbarer Plattformtechnik und immer kohärenteren Designsprachen dienen die einzelnen Automodelle in erster Linie als Instrumente der Markenkommunikation. Der ästhetischen Gleichschaltung steht der Anspruch gegenüber, mit der digitalen Revolution und dem Siegeszug des Silicon Valley Schritt zu halten. Denn während Elektromotoren die automobile Architektur neu ordnen, der Verkehr sich vernetzt, Menschen ihre Autos lieber teilen statt sie zu kaufen und autonome Assistenzsysteme langsam aber sicher das Steuer übernehmen, könnten die Designer dem „Lebensraum“ Automobil eine völlig neue Bedeutung zuweisen. Es bleibt spannend, welche wirklich neuen Konzepte zukünftige Automobilhistoriker und Kulturwissenschaftler einmal als Zeitzeugen unserer Epochenwende beschäftigen werden.
Ob ein radikaler Entwurf wirklich revolutionär ist und die Entwicklung des Automobils mit gewaltiger Energie nach vorne katapultiert, lässt sich eben erst in der Retrospektive erkennen. Der Lancia Stratos mag heute als Designikone gefeiert werden – in den Siebzigerjahren waren die Reaktionen auf den kompakten Rallyesportler eher verhalten. Um zu begreifen, wie fremd ein Lamborghini Countach einst an einer italienischen Autobahnraststätte gewirkt haben muss, sollte man sich das damalige Straßenbild mit seinen rundlich-barocken Kleinwagen in Erinnerung rufen. Und dass der Audi Avus von 1991, der mit seinem silbrig schimmernden Körper an die großen Auto-Union-Rennwagen erinnerte, eines der wichtigsten Concept Cars seiner Epoche werden sollte, offenbart sich erst mit Blick auf den Siegeszug jener Aluminium-Strategie, die der Showstar damals vorwegnahm. Mag sein, dass uns heute ein Gedankenexperiment wie das Lo Res Car aus der Kreativabteilung einer niederländischen Modemarke unrealistisch erscheint – doch wer weiß, in 20 Jahren könnte es als Ikonen automobilen Querulantentums und Schlüsselidee auf dem Weg zu einer neuen Karosserieform gelten.
Wie radikal ist zu radikal?
„Das ist ja der Traum der allermeisten Autodesigner“, sagt Michael Mauer, Herr über die Formensprache von Porsche und der Volkswagen Group. „Sich von allen konservativen Einflüssen freizumachen und etwas so radikal Andersartiges und Neues zu entwickeln, dass es selbst Jahrzehnte später noch anziehend und modern wirkt – und nicht bloß skurril. Die neuen Antriebstechnologien, die Digitalisierung und das autonome Fahren geben uns momentan zumindest theoretisch die Möglichkeit, das Automobil sehr viel radikaler zu verändern, als es in der Vergangenheit der Fall war. In diesem Kontext können in vielen Designabteilungen plötzlich Konzepte entstehen, bei denen man uns vor fünf Jahren noch gefragt hätte, ob wir uns am Morgen zu viel Grappa in den Espresso gekippt hätten.“
Für Flavio Manzoni, Designdirektor bei Ferrari, liegt der Schlüssel zur automobilen Innovation im vernetzten, alle Disziplinen überschreitenden Denken: „Für mich ist Design die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft, Erfindergeist und Erinnerung, Moderne und Traditionsbewusstsein. Unter Kreativität verstehe ich entsprechend die Fähigkeit, diese Beziehungen zu schaffen, wo sie noch nicht existieren. Heutzutage nutzen Designer leider oft nur noch bewährte Bausteine, um zu überspielen, dass sie keine innovativen Ideen mehr haben. Es ist nun mal einfacher, eine Ikone neu aufzulegen als neu zu erfinden. Ich habe zum Glück gelernt, interdisziplinär zu arbeiten und aus den Kurzschlüssen zwischen unterschiedlichen Arbeitsbereichen Energie zu schöpfen. So lassen sich Architektur, Bildhauerei, Industriedesign und Musik miteinander verknüpfen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Designprozess vom leeren Skizzenblatt bis zum fertigen Auto etwas Magisches hat und immer wieder anders ist – angefangen bei der Idealvorstellung im Kopf und der kreativen Leidenschaft, durch die der erste Bleistiftstrich zu einer vollkommenen Form wird.“ |
Fotos: Gestalten Verlag