Der Aufstieg und Fall von Automobili Bugatti ist eine Geschichte von großen Ambitionen, eisernem Durchhaltewillen, grenzenloser Passion und – am Ende – großer Tragik. Sein Patriarch, der italienische Automobilunternehmer Romano Artioli, arbeitete vier Jahrzehnten unermüdlich an der Erfüllung seines Traums zur Wiedererweckung der großen französischen Marke. Um damit zugleich das Andenken an dessen visionären Gründer Ettore Bugatti zu ehren.
Mit dem Kapital aus einem riesigen Handelsimperium - in den 1980er-Jahren bediente er von Bozen aus mit einem der weltweit größten Ferrari-Händlerstützpunkte den norditalienischen und süddeutschen Markt; daneben war er der erste Suzuki-Importeur für Italien – verhandelte Artioli zwei Jahre lag mit der französischen Regierung über den Erwerb der Namensrechte an Bugatti. Im Oktober 1987 folgte die Gründung der Bugatti Automobili S.p.A.
Sofort begann der Bau einer regelrecht avantgardistischen Autofabrik in Campogalliano bei Modena. Artioli köderte italienische Top-Ingenieure und -Designer wie Paolo Stanzani, Nicola Materazzi und Marcello Gandini, um mit ihrer Hilfe den technologisch fortschrittlichsten Supersportwagen zu konstruieren, den die Welt je gesehen hatte. Entwickelt auf einem weißen Blatt Papier und am Ende in-house montiert.
Das Ergebnis war der EB110, eine über 335 km/h schnelle und ungemein attraktiv gestylte Tour de Force, mit Allradantrieb, einem Kohlefaserchassis mit Weltraum-Genen sowie einem von vier Turbos angefeuerten 3,5-Liter-V12 mit fünf Ventilen pro Zylinder und 550 PS. Müßig zu betonen, dass der EB110 Ettore Bugattis Mantra vom „Nichts ist zu schön, nichts ist zu teuer“ perfekt verkörperte.
Ort und Timing der Weltpremiere (in Paris, am 14. September 1991, dem 110. Geburtstag Ettore Bugattis) waren gut gewählt, und die elektrisierende Performance sowie das überragende Qualitätsniveau des EB110 wurden allgemein gelobt. Doch außerhalb der Kontrolle Artiolis liegende Faktoren, darunter ein globaler Wirtschaftsabschwung und Industrie-Sabotage, zogen die Supersportwagen-Manufaktur immer mehr in den Abgrund. Am 23. September 1995, nach dem Bau von nur 115 Produktionsmodellen des EB110, meldete Bugatti Automobili Insolvenz an und musste sofort schließen. Doch bis zum letzten Tag bezahlte Artioli jeden seiner 220 Angestellten weiter.
Der inzwischen 86-Jährige teilt sich seine Zeit zwischen einem Büro in Lyon und dem Familienwohnsitz in Triest, den er sich zusammen mit seiner Ehefrau Renata Kettmeir – die entscheidend an der Gründung von Automobili Bugatti beteiligt war und auch den Luxusartikel-Ableger Ettore Bugatti leitete – und seiner wunderschönen Tochter Isabella teilt. Er ist noch immer blitzgescheit, fit wie ein Turnschuh, gelegentlich urkomisch lustig und voll informiert darüber, was in der Welt und besonders in der automobilen Szene so alles passiert.
Bis heute sind seine Meinungen und Gefühle bezüglich des Endes von Bugatti verständlicherweise von Ärger und Traurigkeit, aber auch Stolz geprägt. Doch indem die Autowelt sich mehr und mehr über die Seltenheit und (damals) unerreichte technische Exzellenz des größten vergessenen italienischen Supersportwagens im Klaren wird, erfährt Romano Artioli endlich die verdiente Anerkennung. Wir besuchten ihn in seinem atemberaubenden Anwesen an der Adria-Küste, für hausgemachte Tortellini, Renatas legendäres Tiramisu und Geschichten über den EB110, direkt aus dem Mund seines charismatischen Schöpfers. Schnallen Sie sich an....
Woher rührt Ihre Liebe zu Autos?
Ich wurde in der Nähe von Mantua geboren, der Heimatstadt des großen Tazio Nuvolari. Ihn und seine Zeitgenossen fahren zu sehen und zu erleben, wie sie jedes Mal hinter dem Lenkrad ihr Leben riskierten, war unglaublich. Als ich 12 war, las ich mehrmals ein Buch, in dem stand, wie man einen Führerschein erwirbt. Danach war für mich klar, dass mein Leben Autos und Motoren gehören würde. In Bozen, wohin meine Familie zog, gab es ein angesehenes Institut, an dem ich täglich acht Stunden lang Technik und Maschinenbau studierte. Nach meinem Abschluss schaute ich nach einer Werkstatt für die Reparatur von Autos, die während des Krieges beschädigt worden waren.
Warum haben Sie sich dann dazu entschieden, sich als Lebensaufgabe die Rettung von Bugatti vorzunehmen?
Das geht bis auf 1952 zurück, als die Nachricht vom Ende der Automobilproduktion bei Bugatti kam. Ich war geschockt, weil ich immer Bugattis Aktivitäten verfolgt und ihn für seine Arbeit bewundert hatte. Vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg waren Bugatti Modelle nicht für ihre Quantität, sondern ihre überragende Qualität bekannt. Bugatti war ja eine Künstlerfamilie. Ich habe in meinem Leben viele Ingenieure kennengelernt und – leider – tendieren sie dazu, nur in einem kleinen Bereich Erfahrung zu haben, jedoch nicht über ihn hinausblicken zu können. Wer einen breiteren Hintergrund hat, sei es in der Philosophie oder in den Künsten, kann viel mehr erreichen. Ich sagte mir: Wenn niemand auf die Situation bei Bugatti reagiert und was tut, werde ich so lange arbeiten, bis ich die Marke eines Tages zurückbringen kann. Da war ich 20 Jahre alt und es sollte dann 39 Jahre dauern, ehe ich endlich mein Ziel erreicht hatte.
Woher nahmen Sie das Geld, um Bugattis Comeback finanziell zu unterfüttern?
Ich importierte Autos. Ehe ich zum ersten General Motors-Händler Italiens ernannt wurde, verkaufte ich nach Erlaubnis durch den Vatikan (!) Borgward aus Deutschland. Bald darauf begann ich dann mit dem Import von Suzuki. Es gab damals keine japanischen Autos in Italien, daher schrieb ich an die Suzuki-Verantwortlichen, um meine Bereitschaft für den Verkauf ihrer Fahrzeuge zu bekunden. Sie antworteten, dass sie kein Interesse hätten, doch 15 Tage später kamen die ersten Wagen an! 20 Jahre lang war ich dann der größte Importeur japanischer Autos in Italien. Ich verkaufte sogar den Maruti, weil er anders als die meisten damals in Europa angebotenen Modelle ab Werk eine Klimaanlage hatte. Ich verkaufte wie verrückt!
War es für Sie wichtig, die Franzosen und speziell die Einwohner am Bugatti Stammsitz in Molsheim für Ihre Sache zu gewinnen?
Als ich mit der französischen Regierung über den Kauf der Marke verhandelte, investierten gerade viele italienische Firmen in Frankreich. In den Zeitungen standen Berichte, die vor einer Übernahme der Italiener warnten. Aufgrund der Umstände sagte der Minister zunächst, dass wir nicht vorwärtskämen. Doch wir schafften es, die Verhandlungen nicht nach außen dringen zu lassen und schlossen den Deal ab. Ich wollte das Auto zunächst in Molsheim bauen lassen, doch Ettores Sohn war nach dem Krieg nach Bordeaux gezogen und die ganzen alten Werkhallen samt den Technikern waren ebenfalls nicht mehr da.
In Frankreich ist Molsheim vergleichbar mit Maranello in Italien und Hethel in England. Es ist ein Tempel für Bugatti, und die Menschen dort schützen diesen Status verständlicherweise auch sehr. Ich sagte ihnen, dass ich Bugatti ganz alleine nicht wiedererwecken könne und bat um Mithilfe. Es war für mich sehr wichtig, eine Verbindung zwischen Molsheim und Campogalliano herzustellen und zu bewahren – ich kann mit Stolz sagen, dass es sogar Hochzeiten von Menschen aus beiden Orten gab!
Warum war es für so wichtig, ein solch radikal neues Werk zu errichten?
Ich habe viele Autowerke in Europa besucht, um mehr über die Produktionsmethoden zu erfahren. Und war entsetzt darüber, wie furchtbar laut es in den meisten war. Dazu gab es keine Fenster, die Beleuchtung erfolgte künstlich. Es fühlte sich an, als wären die Arbeiter im Gefängnis. Da sagte ich mir: Wenn Du in die Automobilindustrie einsteigst, dann mit einer Fabrik, die komplett anders ist. Offen, mit Klimaanlage und mit dem Gefühl, als wäre man draußen in natürlichem Licht. Mein jüngerer Cousin Giampaolo Benedini war der Architekt und machte einen fantastischen Job. Viele andere Hersteller kamen zur Besichtigung des Werkes, um sich näher zu informieren. Die Einwohner Campogallianos trauern bis heute der Möglichkeit nach, unter solchen Bedingungen arbeiten zu können. Sie kommen einmal im Jahr zu einer Art Gedenkfeier zusammen – und da fließen noch immer Tränen, unfassbar....
Paolo Stanzani verließ Bugatti mit einem bitteren Nachgeschmack – war es nur eine Frage von unterschiedlichen Auffassungen?
Stanzani war ein Gentleman, der - nach meiner ehrlichen Meinung – ein Schwätzer, aber kein Ingenieur war. Er verstand absolut gar nicht, kopierte nur Ideen anderer. Es war ein großer Fehler von mir, ihn einzustellen. Es war dumm, dass er sich zum Beispiel für ein verwindungsfreudigeres Honeycomb- anstelle eines Kohlefaser-Chassis entschied. Er argumentierte, dass dies die Performance steigern würde – unglaublich, oder?
Wie kam es dazu, dass Benedini dann auch das Design des EB110 finalisieren und quasi zu einem guten Ende führen musste?
Der erste Entwurf von Marcello Gandini war fürchterlich. Das Modell sah aus wie ein Lamborghini und war unmöglich zu fahren. Er war ein großartiger Designer, realisierte aber nicht, dass die Entwicklung weitergegangen war. Gandinis große Zeit war die der Keilform-Ära, als scharfe Kanten das Maß der Dinge waren. Doch er konnte nicht über diesen Horizont hinausschauen. Ich sagte ihm, dass sein Entwurf kein Bugatti sei und dass ich etwas Weicheres wollte, dass mehr Kunden ansprechen würde. Nachdem wir das Chassis gewechselt hatten, bat ich also Benedini, sich um das weitere Design zu kümmern, Denn wir hatten keine Zeit, alles nochmal zu verändern, schließlich war das Datum für die Präsentation schon fest fixiert.
Benedini antwortete, dass das nicht seine Aufgabe sei, doch ich bestand darauf, dass er es versuchte. Tatsächlich hatte er dann Erfolg und man kann sagen, dass das Auto auch nach 30 Jahren noch immer aussieht wie neu. Den großen und hufeisenförmigen Bugatti-Grill zu integrieren war jedoch unmöglich. Daher einigten wir uns auf eine deutlich kleinere Ausführung, die den Spitznamen ‚Mausefalle’ erhielt. Gandini sagte mir, dass er das Auto nicht mehr wiedererkennen würde und er es nicht als seines akzeptieren könne. Ich antwortete ‚Danke vielmals’, und er verließ das Büro.
Hat Sie nicht doch manchmal der Gedanken eingeholt, sich mit einem solch extrem ambitionierten Projekt übernommen zu haben?
Wir konnten nicht auf Nummer sicher gehen. Zu Ehren von Ettore Bugatti mussten wir beim EB110 die Grenzen verschieben. Für mich war die Stückzahl nicht so wichtig, viel mehr die kompromisslose Qualität und Innovation. Der Typ 57SC Atlantic war wie ein Hubschrauber für die Straße – das zeichnete Bugatti aus, immer Neues zu erfinden und Dinge anders zu machen als der Rest. Während des ganzen Projekts folgte ich immer Ettores Philosophie des „nichts ist zu schön, nicht zu teuer“.
Welche Erinnerungen haben Sie an die Weltpremiere in Paris, am 110. Geburtstag von Ettore Bugatti?
Zunächst war ich erleichtert, weil es um ein Haar gar nicht dazu gekommen wäre! Eine Woche zuvor musste Renata nach Paris, weil die Behörden, die von einem kleinen Event ausgegangen waren, herausgefunden hatten, dass wir über 5.000 Pressevertreter und Industrie-Größen aus der ganzen Welt eingeladen hatten. Sie hielten das für zu gefährlich; daher mussten wir mehrere hundert private Sicherheitskräfte anheuern, die dann rund um das Event auf der Place de la Défense einen menschlichen Schutzzaun bildeten. Sie wollten auch keine sichtbare Werbung, doch Renata umging dieses Verbot in Gestalt eines riesigen Blumenbouquets in der Form des Bugatti-Logos. Alle Mädchen kreischten, als Alain Delon mit Renata die Champs-Elysées hinunterfuhr. Keiner ahnte, dass wir das Auto noch auf dem Weg nach Paris im Transporter fertiggestellt haben.
Ihr fraglos prominentester Kunde war Michael Schumacher – wie kam es dazu?
In jener Zeit gab es zahlreiche Hersteller von Supersportwagen – McLaren, Jaguar, Porsche und andere. Ein deutsches Fachmagazin organisierte einen Vergleichstest und lud Schumacher ein, die Autos zu fahren. Nachdem er den EB110 probiert hatte, beschrieb er ihn als ein Auto wie kein anderes, das schlicht unvergleichbar sei. Er kam sofort danach nach Campogalliano und kaufte einen gelben Super Sport mit blauem GT Interieur. Er fragte auch nicht nach einem Rabatt – er war schlicht ein echter Fan und ich weiß, dass er sehr viel Spaß mit dem Auto hatte!
An welchem Punkt bemerkten Sie, dass sich die Dinge nicht so entwickelten wie vorhergesagt?
Wir arbeiteten hart, um das Auto überall in der Welt zu präsentieren, und trotz der globalen Finanzkrise waren die Reaktionen durchweg enthusiastisch. Doch die Amerikaner litten noch unter dem Eindruck des Golf-Krieges, und zu allem Überfluss stieg dann auch noch der Kurs des Yen. Für uns extrem schädlich, denn Suzuki war das Lebenselixier, dass uns die Möglichkeit zur Wiederbelebung von Bugatti erst ermöglichte. Plötzlich wurde ein Suzuki um 50 Prozent teurer und zugleich schlitterte Fiat in eine Krise, will sich dort niemand um die Qualität der dortigen Autos kümmerte. Der Neuwagenabsatz brach ein, und um den Export anzukurbeln, drängte Fiat auf eine Neubewertung der Lira. Zu guter Letzt brach dann auch noch die Konjunktur in Italien ein - der Markt schrumpfte.
Ich wollte nun die Aktivitäten bei Bugatti intensivieren, entdeckte aber später, dass drei unserer Direktoren von der Konkurrenz Zahlungen erhielten. Unsere Zulieferer wurden bestochen, uns nicht mehr zu beliefern. Und da wir nur relativ kleine Stückzahlen orderten, hatten sie keine andere Wahl, als sich zu fügen. Dann gingen die Bestellungen zurück – zuerst von den Japanern, die mir mitteilten, dass der von uns entsandte Verkaufsdirektor keine gute Person sei. Komisch nur: Diese Mitarbeiter waren sehr professionell und wussten genau, was sie taten.
Wenn wir etwas taten, wurden die ‚anderen’ sofort darüber informiert. Die Berichterstattung über die Paris-Premiere war ausführlich – in jedem Land außer in Italien. Die wichtigste Zeitung berichtete über den neuen Lancia Delta und ‚eine andere italienische Marke’. Es wurde untersagt, über uns zu sprechen. Journalisten wurden sogar Informationen zugesteckt, nach denen wir von der Mafia finanziert würden! Als ich anfing, hätte ich mir nie vorstellen können, einmal Opfer solcher Attacken zu werden.
Können Sie den Tag beschreiben, an dem die Fabrik geschlossen wurde?
Das war absolut grausam. Alles ging verloren, von persönlichen Gegenständen bis zu offiziellen Archivfotos und Dokumentationen. Eine Woche später kam die Präsidentin des Verwaltungsrats, um sich das Werk anzuschauen. Schnell realisierte sie, dass Bugatti Automobili nicht nur eine weitere Fima war, die nicht ihre Löhne zahlte. Im Gegenteil bezahlten wir unsere Angestellten bis zum letzten Tag.
Bereuen Sie im Rückblick irgend etwas?
Ja, nicht die Gelegenheit gehabt zu haben, die Superlimousine EB112 der Weltöffentlichkeit präsentiert zu haben. Das war ein wirklich unglaubliches Auto, das sogar noch genussvoller zu fahren war als der EB110 GT. Der Motor, ein 6,0 Liter großer V12-Sauger, war hinter der Vorderachse montiert, das Chassis war aus Kohlefaser und die innenliegenden Aufhängungen waren sehr leicht. Als Folge fuhr sich das Auto wie ein Go-Kart. Giugiaro bezeichnet den EB112 als das wichtigste Auto, das er je gezeichnet hat. Es begeisterte ihn, weil er in dem Modell eine moderne Interpretation der legendären Art Deco-Bugatti sah.
Was fühlen Sie heute, wenn Sie einen EB110 betrachten?
Es erfüllt mich mit großen Emotionen. Es dauerte 40 Jahre, bis ich endlich das grüne Licht zum Bau des EB110 erhielt – und danach folgten sieben Jahre totaler Krieg. Die am Projekt Beteiligten waren wundervolle Personen, es waren diese Menschen, die das Auto so speziell gemacht haben - sie verstanden den Qualitätsanspruch, den wir unbedingt hochhalten wollten. Das alles unter diesen Umständen zu verlieren war ein Schock. Noch heute ist der EB110 auf einem anderen Niveau – seine zeitgenössischen Konkurrenten waren einfach nicht so vollkommen.
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2019