Ungeliebte Autos und unkonventionelles Design aus den achtziger und neunziger Jahren sind das Elixier von Fotografin Mathilde Karrèr und Designer Marick Baars. Unser Autor Blazej Zulawski hat sie beim Flitzer Club kennengelernt. Jetzt spürt er ihrem untrüglichen Geschmack für das Entlegene nach.
Während ich diese Worte im noch jungen Jahr 2022 schreibe, hat Marick Baars den hier gezeigten schwarzen Mercedes von 1986 und den nicht minder schwarzen Jaguar XJS von 1993 verkauft, um Platz zu schaffen für einen makellosen grauen Alfa Romeo 164 Q4 von 1997. Doch letztlich ist dieser Umstand für meine Geschichte nicht von Belang, denn all diese Maschinen sind eine Verkörperung des unfehlbaren Geschmacks und dem Auge für die unscheinbaren Dinge, welche Mathilde Karrèr und Marick Baars mit großer Kunst kultiviert haben. Sie beide haben ihn – diesen sechsten Sinn, der Trends erspürt, lange bevor die Zeit reif ist. Kennengelernt habe ich Marick und Mathilde vor einigen Sommern während einer dieser notorischen Wochenendausfahrten des Berliner Flitzer Clubs. Wir schlossen sofort Freundschaft. Im Sommer 2021 treffen wir uns erneut in Berlin, diesmal im Bonanza Coffee Roasters – einem Treffpunkt im Herzen von Mitte, der kürzlich von Maricks Modeste Studio gestaltet und eröffnet wurde.
Sie kommen unabhängig von einander an: Mathilde im schwarzen Jaguar XJS mit Graf Gilbert Montgomery, ihrem Dachshund, als Beifahrer. Marick, ebenfalls allein, fährt in einem Peugeot 106 Roland Garros von 1994 vor, dessen grüner Lack Kenner mit der Zunge schnalzen lässt. Er ist ein ehemaliger Grafikdesigner, der zum erfolgreichen Architekten und Interior Designer geworden ist. Sie ist eine Fotografin, die sich auf Stillleben spezialisiert hat, die wie raffiniert fantasievolle Miniwelten wirken.
Obwohl beide Holländer sind, und beide aus Rotterdam stammen, ist ihre Herkunftsgeschichte so verschieden wie Tag und Nacht. Dieser Unterschied äußert sich, als ich versuche, ein Foto von Mathildes Armbanduhr zu machen – einer goldenen Audemars Piguet Royal Oak. „Oh, bitte nicht, es ist nicht besonders gut gelungen. Ich habe es selbst gestochen“, sagt sie in der Annahme, dass ich das Tattoo auf ihrem Handgelenk im Visier habe. Ich will gerade mein Motiv erklären, als Mathilde fortfährt: „Ich benutzte eine Gefängnistechnik. Ich war damals Hausbesetzerin in Rotterdam.“ Das Erstaunen auf meinem Gesicht muss so offensichtlich sein, dass ich sofort eine Erklärung erhalte. „Dann traf ich Marick und es stellte sich heraus, dass ich mehr zur Kapitalistin als zur Anarchistin tauge“, lacht Mathilde.
Bei einer Tasse Kaffee, während wir die frei schwingenden Formen der in handpoliertem Edelstahl ausgeführten Bonanza Bar bewundern, frage ich nach diesem ersten Kennenlernen. „In den frühen 2000er Jahren wollte ich eigentlich nur Flyer für Clubs und Partys gestalten“, erzählt Marick. “Aber kein Club, keine Party wollte mich. Ich komme aus einer Familie, die seit Generationen Reeder sind – ich bin der erste, der sich in einem kreativen Beruf üben wollte. Natürlich hatte ich null Bezugsrahmen. Also löste ich dieses Problem, indem ich ein künstliches DJ-Duo schuf, dass „im Ausland sehr berühmt ist“ und organisierte selbst einen Rave. Ich hatte keine Ahnung von DJs, aber die Flyer waren dieses Risiko wert.“ Währenddessen war Mathilde eine erfolgreiche Hausbesetzerin, baute Heizungsanlagen, richtete die Installationen im Gebäude und übernahm auch verschiedene Minijobs bei Film- und Fotoproduktionen, absolvierte sogar ein paar eigene DJ-Auftritte. „Als ich von diesen weltberühmten DJs aus Rotterdam hörte, wurde ich natürlich neugierig. Wer waren diese Leute, was machen sie in meiner Stadt?“ Marick ergänzt mit einem Achselzucken:„Und ich hatte keine Ahnung, dass sie damals der berühmteste DJ in Rotterdam war.“ Gelächter.
Maricks Selbstvertrauen in seine Möglichkeiten sollte sich ausbezahlen. Sein Einfall und die Flyer funktionierten so gut, dass die halbe Stadt für einen Event auftauchte, der sich als unvergessliche Nacht herausstellte. Im Lauf der Zeit wurde er, auch dank Mathilde, besser am Spinnen verrückter Ideen – das Paar formierte sich später zum Duo „Pavlov Disco“. Gleichzeitig überzeugte er mit seinem unternehmerischen Geist und Mathilde erkannte, dass Haubesetzen keine nachhaltige Zukunft für sie darstellte. „Es war entweder das oder der Panhard PL-17 und der 2CV, die mir damals gehörten“, lacht er. „Sehr unwahrscheinlich, beide waren Rostlauben“, entgegnet sie. Doch zurück in die Gegenwart: Wir springen in die Autos und fahren Richtung Canal No2 in der Linienstraße. Noch ein Ort, den Modiste entworfen hat. Während wir unser Eis genießen, philosophieren wir darüber, wie ungeeignet der moderne Stop-and-Go-Verkehr für eine Großkatze mit 4,0 Litern Hubraum ist, deren Terrain die freien Straßen sind, wo sie mit unter 3.000 Umdrehungen schnurren kann.
Es ist nicht wirklich überraschend, dass sich ein kreativer Freigeist mit einem unbestechlichen Auge für Design in diverse Autoformen verlieben kann. Vor allem dann, wenn diese Autos einer Epoche entstammen, in der Design weniger stark reglementiert wurde. Selbst in diesen zunehmend aufgeklärten Zeiten ist es ungewöhnlich, dass Frauen in dem Maße wie Mathilde eine Passion für klassische Fahrzeuge leben. Allein am Steuer und sehr engagiert über Alpenpässe zu fahren oder Langstrecken-Abenteuer in unzuverlässigen Maschinen zu durchleben – das ist ihr größtes Glück. Ihr letzter Trip führte in die Schweiz, in ihrem Ferrari Mondial in Blu Medio Metalizzato von 1986, der allerdings kurz vor unserem Treffen eine leichte Blessur durch ein Kamikaze-Wild erlitt. „Es ist das erste Auto in Bestzustand, das ich je kaufte, vorher war meine Neugier immer größer als die Vernunft“, sagt Marick. Ich frage Mathilde nach dem Ursprung ihrer Autoleidenschaft. „Im Vergleich zu Maricks Familie war meine immer ziemlich künstlerisch. Mein Großvater Frits Rotgans war ein berühmter niederländischer Fotograf, der seine eigenen Panorama-Großformatkameras baute. Er liebte Maschinen und spezialisierte sich auf Flughafenszenen. Mein Vater war Bildhauer. Er schuf riesige, monumentale Projekte aus Holz, Metall und Glas, zugleich war er auch ein begeisterter Segelflieger. Al er nicht fliegen durfte, begann er Geigen zu bauen“, erzählt sie mir. Irgendwie passen Autos doch sehr gut in das Bild: Schöpfertum, Engineering, Emotion, Physik, Freiheit.
Design, Kunst und interessante Autos führten Marick von Rotterdam in eine Welt voller vielfältiger Erfahrungen – und boten ein Gegengewicht zum familiär vorherbestimmten Weg. Bei Mathilde waren diese Erfahrungen – zusammen mit jenen, die mit Autos zu tun hatten – eine natürliche Weiterentwicklung ihrer familiären Prägung. Unterschiedliche Lebenswege, gleiches Ziel.
Um einige von Mathildes Arbeiten zu sehen, fahren wir nach Schöneberg. Auf dem Weg zur Wohnung unterhalte ich mich mit Marik über die Vorzüge eines exzellent konfigurierten französischen Cityflitzers wie seinem Peugeot 106, aber auch dem Renault Clio Baccara und dem Peugeot 205 Gentry. Autos, die man in einer beengten Stadt gut abstellen kann, die aber zugleich auch bei einer Cocktailparty, geparkt vor einem Schloss, eine gute Figur machen. An der Schwelle zu ihrem Apartment bin ich zunächst von der Liebe zum Detail überwältigt, aber auch von dem mühelosen Coolness-Faktor der Einrichtung. Der Blickfang des Wohnzimmers ist ein großformatiges und faszinierendes Bild eines Walds – von niemand anderem geschaffen als Mathildes Großvater. Gegenüber bleibt mein Auge hängen an einem markanten Wandobjekt aus Holz, das wie eine Skulptur wirkt, doch sich als Element aus einem Aufnahmestudio herausstellt. Das blumige Sofa im Chintzstil darunter ist ein augenzwinkernder Akzent.
Ich laufe begeistert herum und fotografiere alles – eine von Glas umschlossene hölzerne Hand, die mit Perlen und Kristallen beklebt ist, eine Büste eines Pferdekopfs, eine halb geschmolzene Discokugel, Bilder, die Mathildes Mutter gemalt hat und verstreute Modellautos. Außerdem liegen da Broschüren für den Ferrari Mondial. Insgesamt wirkt dieses Interieur des kreativen Paares erfrischend, eigenwillig, nicht minimalistisch, dafür sehr einladend. So ganz anders als die kühlen modernen Modiste-Projekte. Alles ist beeindruckend und bewundernswert cool – aber in einer Welt, die Inszenierungen auf Instagram und Pinterest verfallen ist, sind diese Räume eben nicht „kuratiert“, sondern einfach sehr relaxed.
Als es zu dämmern beginnt, holen wir den für die USA spezifizierten Mercedes SL aus der Garage, um das Shooting vor dem umwerfenden Haus der Kulturen der Welt abzuschließen. Ich bin so ergriffen von allem, was ich heute gehört und gesehen habe, dass mir allmählich die Bildideen ausgehen. „Machen wir doch eine Aufnahme von oben und ich händige Marick eine Depeche Mode-Musikkassette aus – ganz so, als würden wir ein zwielichtiges Drogengeschäft abwickeln“, schlägt Mathilde vor. Ich laufe die Stufen der Überführung hoch und knipse das Foto. Manche Menschen haben ihn einfach, diesen sechsten Sinn.
Text & Fotos: Błażej Żuławski