Xavier Micheron von der Ascott Collection hütet seine Trumpfkarte für die Rétromobile wie seinen Augapfel. Man kann ihn nur zu gut verstehen. Wenn dieser einmalige Nissan R390 GT1 den Ehrenplatz auf dem Stand des Spezialisten für historische Rennwagen auf der Messe in der nächsten Woche bekommen wird, wird es auch das erste Mal sein, dass dieser Rennwagen seit seinem fünften Platz in Le Mans 1998 wieder französischen Boden berührt. Das Chassis mit dem Kürzel R8 und der Rennnummer 30 wurde zusammen mit sieben weiteren R390 von Nissan mit dem engagierten Anspruch, das legendäre Langstreckenrennen 1997 und 1998 zu gewinnen, gebaut. Seither ruhte es fern der Öffentlichkeit 22 Jahre lang in der Nissan Heritage Collection in Yokohama. Bis jetzt.
Um die Bedeutung dieses Fahrzeugs zu verstehen, muss man ein wenig ausholen. Für Enthusiasten boten die neunziger Jahre mit Kandidaten wie Lamborghini Diablo, Jaguar XJ220, Ferrari F50, Bugatti EB110 und natürlich McLaren F1genügend Stoff für Begeisterung – seien es Plakate für autoverrückte Teenager oder als echte Traumwagen, die sich manche leisten konnten. Motorsport-Insider wie Jürgen Barth, Stéphane Ratel und Patrick Peter witterten ihre Chance.
Nach dem Untergang der Gruppe C und der Sportwagen-Weltmeisterschaft schuf das Trio 1994 mit der BPR Global GT-Serie eine Meisterschaft, deren Akteure wieder eher den Modellen im Showroom ähneln sollten. Perfektes Timing, denn der Erfolg der Serie – beflügelt von McLarens Le Mans- Sieg mit dem F1 GTR – bewog auch andere Marken ihren Fokus auf GT1, der Champions League des Sportwagen-Motorsports, zu richten.
FIA und ACO leiteten dann noch vor der Saison 1997 die expandierende BPR-Meisterschaft und lockerten das Règlement der Topkategorie. So debütierten Porsche und Mercedes-Benz mit dem GT1 respektive dem CLK GTR, die als Quasi-Prototypen den „Grand Touring“-Gedanken und die Regeln dieses Sports so weit wie es Technologie und Ethik erlaubten, auszureizen. Ein Katalysator, der auch das GT1-Schicksal besiegeln sollte, aber zunächst anderen großen Namen – wie eben auch Nissan – die Chance bot, einmal reell nach dem Siegerlorbeer greifen zu dürfen.
Irgendwie war es auch eine Frage der Ehre. Hatte doch Mazda tatsächlich 1991 in Le Mans triumphiert – ein Sieg, der Nissan trotz aller Gruppe C-Anstrengungen nicht vergönnt war. Ein missglückter Versuch, mit dem GT-spezifizierten Skyline 1995 an der Sarthe zu reüssieren, ließ Nissans Motorsportabteilung Nismo bei Tom Walkinshaw Racing (TWR), der sich zwischenzeitlich von Jaguar getrennt hatte, anklopfen. In nur vier Monaten entwickelte das Team um Größen wie Tony Southgate und Ian Callum den R390: Ein puristischer Supersportwagen mit Attributen einer Raubkatze.
Unter der muskulös gezeichneten Oberfläche agierte ein doppelt aufgeladener 640 PS starker V8, bekannt aus Nissans Gruppe C-Monstern, und eine mittig verbaute Karbonfaserwanne wie aus dem Jaguar XJR-15, der ebenfalls von TWR gebaut worden war. Dass nur die Scheinwerfer aus Nissans Regalen stammten, belegt, wie bedingungslos die Marke ihre Serienidentität einem Sieg in Le Mans zu opfern bereit war. Das Projekt R390 hatte nur ein Ziel: Auf dem Circuit de la Sarthe triumphieren. Und deswegen wurde ausschließlich nur eine straßenzugelassene Version gefertigt.
Nissan meldete 1997 für Le Mans drei R390 in schwarz und rot und hatte sich als Signal an die anderen Rennfahrerstars wie Riccardo Patrese, Erik Comas und Martin Brundle gesichert. Leider gab es ein Problem mit der Getriebekühlung und daraufhin musste das Auspuffsystem im letzten Augenblick auf Geheiß der ACO und dem Regelwerk modifiziert werden. Nur ein Auto erreichte die Ziellinie, als Zwölftes insgesamt und Fünftes in der Klasse.
Für die Saison 1998 verstärke Nissan die kleine R390-Flotte mit einem vierten Teilnehmer – R8, der abgebildete Rennwagen, war Teil dieses Teams. Gefahren von John Nielsen, Franck Lagorce und Michael Krumm, war es auch das einzige Fahrzeug in der Aufstellung ohne japanischen Piloten. Das Pace der R390 konnte zwar nicht an die optimierten Mercedes CLK LM und Toyota GT-One heranreichen, aber deren Unzuverlässigkeit konnten die Nissan fast während dieses ganzen aufreibenden Rennens für sich nutzen. R8 beispielsweise hielt fast bis zur Mittagszeit die dritte Position. Aber nach einer Vielzahl von kleineren Problemen schnappte sich ein Stallgefährte den Podiumsplatz. Nielsen, Lagorce und Krumm musste sich mit dem fünften Platz begnügen, die anderen R390 passierten als sechster und zehnter die Zielfahne. Nissan hatte sich dennoch mehr erhofft.
Aufgrund der Kostenexplosion und der absoluten Dominanz von Mercedes strich die FIA 1999 die GT1-Kategorie und damit war auch die Rennkarriere von R390 Geschichte. R8 bekam Katalognummer 178 zugeteilt und ruhte mit den sieben anderen Le Mans-Gefährten die nächsten 21 Jahre in der Nissan Heritage Collection in Yokohama.
Bei der Rétromobile in der kommenden Woche wird dieser geschichtsträchtige R8 die Attraktion auf dem Stand von Ascott Collection. Es werden zwar noch andere GT1 aus den späten neunziger Jahren in Paris ausgestellt sein, aber als einziger R390 aus privater Hand ist er unbestritten eine Rarität. „Man sieht bei wichtigen Events wie Messen öfters McLaren F1 GTR und Mercedes CLK GTR wie beispielsweise auf der Rétromobile im letzten Jahr “, erzählt Micheron. „Aber weil Nissan seine Autos behielt, ist auch viel weniger über diese reinrassigen Rennwagen bekannt.“
„GT1-Rennwagen sind aus zwei Gründen heute so attraktiv. Zunächst sind sie Schönheiten, die tatsächlich wie die Straßenautos auf denen sie basierten ähneln. Heute unterscheiden wir Fahrzeuge nach den Stallfarben, damals war die Form ausschlaggebend. Zweitens ist es einen Generationenfrage. Heute Vierzigjährige haben diese Fahrzeuge noch in Aktion erlebt oder kennen sie von der PlayStation. Es war die goldene Ära der Langstreckenrennen.“ Diese beflügelten Schöpfungen verkörperten den Zeitgeist der neunziger Jahre und erhielten durch Videospiele wie Gran Turismo und TOCA Kultstatus.
Sollten Sie zum Saisonauftakt Rétromobile in Paris sein, dann lassen Sie sich diese anglo-japanische Koproduktion, die ungefähr so selten wie ein Einhorn ist, keinesfalls entgehen. Eine einmalige Gelegenheit, ein wahres One-Hit-Wonder aus nächster Nähe zu bewundern.
Fotos: CM Arte for Ascott Collection © 2020