Der neue Lamborghini Gallardo LP560-4 ist nicht nur schneller als sein Vorgänger, sondern auch zivilisierter. Ein Sieg der Evolution auf den ersten Blick. Doch wohin führt die Umerziehung durch Audi auf lange Sicht? Verliert der wilde Stier seine Stellung als letzter Widerstand im Gleichstrom der pragmatischen High-Tech-Sportwagen? Ein Fahrbericht auf den Spuren automobiler Anarchie und Autonomie.
Der Versuch eines Soziogramms: Audi und Porsche, in Blech gehauener Pragmatismus. Ein Ferrari dagegen möchte immer mehr sein als ein Sportgerät, er will zwischen frisch gestutzten Buxbäumen fotografiert werden, auf dem Kies königlicher Hofeinfahrten, als Teil der besseren Gesellschaft, hochwohlgeboren, eitel, arrogant und schön. Der Lamborghini hat das nicht nötig. Als Kind eines Traktorenherstellers, als „Working Class Hero“, steht er zu seiner Maschinenhaftigkeit, seiner rauhen Funktionalität, seiner proletarischen Gewaltbereitschaft. So war es bisher. Beton, Asphalt und kaltes Neonlicht sind die Elemente, die seine Kanten immernoch zum leuchten bringen. Am besten also, man schießt ihn einfach hier, in der Tiefgarage, reduziert auf den harten Kontrast von Licht und Schatten, schwarzweiß.
Auch wenn die geometrische Grundform des ersten Gallardo von 2003 erhalten wurde, die formalen Änderungen des LP560-4 stechen sofort ins Auge: Schärfer geschnittene Lufteinlässe und eine angespitzte Front im Stil des Lamborghini Reventòn, dazu neue Frontscheinwerfer mit LED-Tagfahrlicht sowie zwei tiefe Kiemen vor den vorderen Radhäusern. Dramatischer wurde an der Heckpartie geschnitzt. Die Rückleuchten sind deutlich schmaler geworden und greifen die Wurfstern-Optik des großen Modellbruders Murciélago LP640 auf. Der dominante, scharfkantige Diffusor mit den vier verchromten Endrohren verleiht dem LP560-4 ebenfalls neue Aggressivität, hat aber vor allem aerodynamische Vorteile: Laut Beipackzettel hat das Redesign die Fahrstabilität um 30 Prozent verbessert. Weiter kann man lesen, dass sich unter der Karosserie eine neue Aluminium-Architektur verbirgt, die für mehr Steifigkeit und 20 Kilogramm weniger Gewicht sorgt. Für ein Modell-Update also eine recht aufwändige Nummer.
Im Zentrum des Umerziehungsprogramms stand jedoch der Motor: Der Hubraum des V10-Triebwerks wurde von 5,0 auf 5,2 Liter vergrößert, die Leistung dadurch - und dank neuer Benzin-Direkteinspritzung - auf 560 PS gesteigert. Diese Zahl findet sich auch im Modellnamen LP560-4 wieder, neben dem Markentypischen „LP“ für die Längsposition des Motors und der „4“ als Verweis auf den obligatorischen Allradantrieb. Erste Track-Testberichte feierten den neuen Gallardo als Quantensprung, der alle Unsauberkeiten der ersten Generation auf einen Schlag vergessen machte. Schön und gut - doch wie wirkt sich die technische Evolution auf der Straße im urbanen Alltag aus? Und ist der Preis für die technische Perfektion nicht zwangsläufig ein Charakterverlust?
Die flachen Decken, die zahllosen Säulen, die Wasserrohre, der harte Sichtbeton, der keine Schallenergie absorbiert – das alles wirkt wie eine Echokammer, ein Hallraum für das monströse Gebrüll des Zehnzylinders, dessen Echo uns von allen Seiten entgegenschlägt. Zumindest beim Anlassen spürt man das Biest noch im Nacken und auch der Weg durch die schmalen Parkhaustunnel an die Erdoberfläche gestaltet sich dank spartanischem Wendekreis, fehlender Rundumsicht und ungünstig plaziertem Rückwärtsfahr-Knopf zu einer Nervenprobe, die an die fernen Tage von Countach und Diablo erinnert. Mehr als geradeaus zu rasen war damals nicht möglich.
Im Stop-and-Go-Verkehr der Hamburger Innenstadt demonstriert der Gallardo LP560-4 allerdings seine neue, wohl erzogene Seite: Die Automatik arbeitet deutlich sanfter als im Vorgänger und hat mit 120 Millisekunden pro Schaltvorgang auch an Geschwindigkeit gewonnen. Mit dem Lamborghini täglich zur Bank, Kanzlei, Agentur – ab sofort kein Problem mehr. Auch der Zehnzylinder, dessen nervöses Dauergrollen dem ersten Gallardo stets alle Aufmerksamkeit sicherte, klingt vergleichsweise harmonisch, zahm und zivil – bis man die 4.000 Umdrehungen überschreitet oder die Corsa-Taste drückt. Die handyfotografierenden Halbwüchsigen bleiben einem aber so oder so erhalten: Ein weißer Lamborghini bleibt ein weißer Lamborghini.
Auf der freien Bahn jenseits der Stadtgrenze dann die Einsicht: Was der Gallardo an Raubeinigkeit einbüßt, hat er an Schub gewonnen. Nur 3,7 Sekunden bis Tempo 100, die Höchstgeschwindigkeit bei 325 km/h – mit diesen Werten verdrängt der neue Power-Lamborghini nicht nur den leichteren und schneller schaltenden Ferrari F430 Scuderia von der linken Spur, sondern rückt auch den bisherigen Topmodellen aus den eigenen Reihen auf den Pelz. Ab 4.000/min. beginnt der Motor zu grollen, bis 8.000 Touren dreht der Motor mit immer ohrenbetäubenderem Brüllen – vorausgesetzt, man behält die Nerven und greift nicht vorher in die Schaltpaddel, um das Spiel im nächsten Gang zu wiederholen. Die Federung ist immernoch recht hart und leitet gerade im „Sport“-Modus jede Unebenheit direkt ins Cockpit weiter, auch die Lenkung ist sehr direkt, präzise und fordert gerade bei hoher Geschwindigkeit die ungeteilte Aufmerksamkeit des Fahrers. Dabei ist der LP560-4 jedoch nie launisch oder ungestüm, sondern berechenbar und verlässlich.
Selbst bei Regen lässt sich der Lamborghini – dank Allradantrieb mit Visco-Lamellenkupplung – problemlos beherrschen. Zehn Jahre zurück wäre das noch undenkbar gewesen. Ebenso neu für die Marke ist der Ansatz der Nachhaltigkeit: Benzin-Direkteinspritzung und Leichtbauweise sollen den Verbrauch um 20 Prozent auf durchschnittlich 13,7 Liter pro 100 Kilometer gesenkt haben – zumindest theoretisch. Doch was gibt es auszusetzen an einem Sportwagen, der nicht nur schneller, präziser und sicherer, sondern auch noch sparsamer geworden ist? Aus rationaler Sicht natürlich nichts! Einen besseren und gleichzeitig kompromissloseren und charismatischeren Sportwagen als den Lamborghini Gallardo LP560-4 wird man kaum finden. Doch da ist auch diese unvernünftige Seite in uns, die sich nach den Tagen sehnt, als ein Lamborghini noch mit animalischer Wildheit gleichgesetzt und als Affront gegen Vernunft und bürgerlichen Geschmack empfunden wurde. So wie Bentley durch Volkswagen von seiner elitären Arroganz befreit und einer breiteren Masse zugänglich gemacht wurde, so hat Audi der Marke Lamborghini seine ungehobelte, fehlerhafte Widerspenstigkeit genommen. In beiden Fällen gibt der Erfolg der Evolution recht. Aber ein letzter, wehmütiger Gedanke an die Zeiten des zivilen Ungehorsams sei dennoch erlaubt.
Text & Fotos: Jan Baedeker