Ich kann mich nur selten erinnern, wo ich einen Menschen zum ersten Mal getroffen habe. Bei Valentino Balboni ist es anders. Es war der 31. Oktober 2006, der Nebel hing über den Industriebauten von Sant’Agata Bolognese – und Valentino steuerte einen roten Lamborghini 350 GT von 1964 mit sanftem Lächeln unter grauen Bartstoppeln und zu Schlitzen verengten Augen in Richtung Grenzbereich. „Valentino erledigt seinen Job mit der freundlichen Ausgeglichenheit eines Postbeamten – mit dem einzigen Unterschied, dass wir gerade mit 230 km/h an einem Lastwagen vorbeirasen. Auf der falschen Spur. In einer Kurve.“ So schrieb ich später, nachdem das Kribbeln in den Fingern etwas nachgelassen hatte, in mein Notizbuch. Und fügte hinzu: „Wieso hat bloß niemand diesen Mann für den Italo-Western entdeckt?“
Himmlische Fügung
Dass Valentino nicht bei Sergio Leone, sondern in der Firma von Ferruccio Lamborghini landete, ist letztlich der himmlischen Eingebung von Don Alfredo Pizzi zu verdanken. Pizzi ist 1968 Dofpfarrer in Balbonis Heimatdorf, stammt aber aus Sant’Agata Bolognese – und ist den automobilen Freuden des Lebens nicht abgeneigt. So nimmt er einige Jugendliche, darunter auch der 18 jährige Valentino, mit zum Werk von Lamborghini. Dort werden gerade Leute gesucht. Valentino bewirbt sich, bekommt den Job und fängt ganz unten an. Er hat nicht mal einen Führerschein, was ihn jedoch nicht daran hindert, die von ihm geputzten oder reparierten Kundenautos – meist 400 GT, Espada oder Islero – auf dem Firmengelände zu „testen“. Sein Vorbild ist damals bereits Lamborghini-Cheftestfahrer Bob Wallace, der jeden Tag hinter einem anderen Steuer sitzt.
1971 wird er Mechaniker, dreht nach der Schicht seine Testrunden, meist ohne Motorhaube. In der Chefetage ist man zunächst irritiert, hat aber schließlich ein Einsehen – und Valentino beginnt, an der Seite des schweigsamen Bob Wallace die aktuellen Versuchsfahrzeuge zu testen. Zwei Jahre später ist es dann soweit: Er erhält vom Technischen Direktor Paolo Stanzani eine Jahreslizenz, um sich bei Polizeikontrollen ausweisen zu können – und darf fortan allein auf öffentliche Straßen.
Eine Lizenz zum Rasen
Mit der „Lizenz zum Rasen“ in der Hand geht Valentino noch am selben Abend zum Kundendienst, steigt in einen Miura SV und fährt zum ersten Mal alleine die Strecke, auf der er in den kommenden 35 Jahren die meisten Prototypen und 80 Prozent aller gebauten Lamborghini testen wird: Aus dem Werksgelände auf die Via Modena, dann in Richtung Nonantola, nach Bomporto und bis Finale Emilia. „Ich fuhr einfach spazieren, ohne Ziel und dem üblichen Zeitdruck“, erinnert sich Balboni. „Geblieben ist das unglaubliche Gefühl, allein mit dem Auto unterwegs sein zu dürfen.“
Der Miura bleibt seine große Liebe – doch für Spazierfahrten ist fortan keine Zeit: Valentinos Aufgabe ist es nun, die frisch montierten Sportwagen einzufahren und abzustimmen. Oft hörten die Mechaniker schon aus der Ferne, ob bei Valentinos abendlichen Testfahrten alles in Ordnung war: „Erster Gang, zweiter, dritter, vierter, fünfter, eine Zeitlang Volllast – dann wussten sie, jetzt stimmt alles, und packten zusammen.“ Doch nicht immer geht alles glatt: Im Mai 1978 testet er den Countach eines Kunden und erreicht auf der Landstraße gerade 180 km/h, als aus dem Nichts ein Lastwagen auftaucht. Valentino überschlägt sich mehrfach, kann sich nur mithilfe eines Feuerlöschers durch’s Seitenfenster retten. Doch der Testfahrer hat sehr viel Glück, trägt vom Unfall bloß einige Schrammen davon.
Das Gesicht von Lamborghini
In den 1980er Jahren ist Valentino der einzige Testfahrer, der bei Lamborghini gleichzeitig in der Prototypen-Entwicklung, der Produktion und im Kundendienst tätig ist. Er wird endgültig zum Gesicht der Marke und repräsentiert Lamborghini auch privat: In seinen Opel Ascona baut er das Lenkrad aus dem Countach ein. In den 1990er Jahren startet in Sant’Agata die Produktion des Diablo – und prominente Kunden aus den USA, Japan oder den arabischen Staaten lassen Valentino schon einmal einfliegen, um sich ihr neues Geschoss vom Cheftestfahrer persönlich erklären zu lassen.
Heute führt Valentino das Leben eines „Elder Statesman“ – und ist trotz Ruhestand noch immer im Zeichen des Stiers unterwegs. Er ist weltweit bekannt als „Mister Lamborghini“, ein Zeitzeuge der Gründungsepoche Ferruccio Lamborghinis und des Carbon-Zeitalters gleichermaßen. Und wer einmal mit schweißnassen Händen neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, wird diesen Tag bis heute nicht vergessen haben.
Fotos: Archiv Balboni, Umberto Guizzardi, Archiv Günther, Armin Johl, Archiv Automobili Lamborghini, Rainer Schlegelmilch