Wäre der Concorso d’Eleganza Villa d’Este einmal im Monat statt nur einmal im Jahr, man würde der Realität wohl vollends entgleiten.
Da steht man nun, einen kühlen Aperol in der Hand, der Kies knirscht unter den Ledersohlen, die Karosserien funkeln im norditalienischen Licht, Kellner eilen mit Platten voller Clubsandwiches vorbei, und man fragt sich: Kann das Leben nicht immer so sein? Wäre der Concorso d’Eleganza Villa d’Este einmal im Monat statt nur einmal im Jahr, man würde der Realität wohl vollends entgleiten. Und so wundert es nicht, dass auch die Organisatoren für ihre diesjährige Inszenierung die Grenzen der Fiktion überschritten – und den „großen Gatsby“ aus F. Scott Fitzgeralds gleichnamigem Roman zum Leitmotiv des Wettbewerbs erklärten.
Stellvertreter einer glamourösen Epoche
Tatsächlich hätte der Long-Island-Millionär Jay Gatsby wunderbar in den ersten Concorso gepasst, der 1929 zum ersten Mal auf dem Anwesen des Grand Hotels Villa d’Este in Cernobbio ausgerufen wurde. Als Stellvertreter dieser glamourösen Epoche standen unter der alten Plantane am See vier schier unglaubliche Zwanzigerjahre-Automobile – ein Hispano-Suiza H6 B, ein Duesenberg A Straight 8, ein Rolls-Royce Phantom 1 und ein Packard 640 Custom Eight. Mit welchem Prunk und welcher Freude am Detail damals karossiert wurde, raubt einem bis heute die Worte.
Vom Winde verweht
Ab den 1930er Jahren weht dann ein neuer Wind durch die Karosseriewerkstätten und Ateliers: Die Gesetze der Aerodynamik sind plötzlich oberstes Gebot, die Stromlinie bestimmt die Silhouette. Am Comer See waren die vom Winde verwehten Klassiker stets ein Höhepunkt der Eleganz – und auch in diesem Jahr enttäuschte das Komitee nicht mit seiner Wahl: Der 1936 von Mario Revelli de Beaumont gezeichnete und bei Pinin Farina karossierte Lancia Astura Type 233 war eines der ersten Luxus-Cabriolets Italiens – und seine sanft geschwungenen Radhäuser sind bis heute ein Gedicht. Auch die Jury war schnell überzeugt und verlieh dem Besitzer Orin Smith aus den USA die Trofeo BMW Group Classic. Etwas seltsam wirkten dagegen die Proportionen des schmalen blauen BMW 328 Stromlinien-Coupés von Wendler mit seinen drei Scheinwerfern und dem steil abfallenden Heck. Doch die Form folgte der Funktion – und bei der ersten Testfahrt im Jhr 1937 erreichte der BMW eine ansehnliche Geschwindigkeit von 174 km/h.
4.000 Lire für einen Publikumsliebling
Auch der Rolls-Royce Phantom II aus dem Besitz von Sir Anthony Bamford stand mit seinem „Boattail“ ganz im Sinne der neuen Schnittigkeit – und war beim Concorso eines der schönsten Exemplare der 110-jährigen Geschichte von Rolls-Royce. Eine echte Stromlinien-Überraschung gelang derweil dem italienischen Sammler Corrado Lopresto, stets zu erkennen an seiner Sonnenbrille, dem kleinen Hund und der italienischen Großfamilie: Lopresto hatte einen Alfa Romeo 6C 1750 GS aufgetan, der 1931 zunächst von Zagato als Roadster gebaut und 1938 für 4.000 Lire an die Carrozzeria Aprile in Savona verkauft worden war, wo er in einen atemberaubenden Spider verwandelt wurde. Die aufwändige Restaurierung und die zahlreichen Details wissen auch 76 Jahre später noch zu überzeugen – das Publikum des Concorso wählte den Alfa zum schönsten Klassiker der Schau und sicherte ihm somit verdient die Coppa d’Oro Villa d’Este.
Rückkehr zur Eleganz
Die Liebe der Concorso-Besucher zum Alfa 6C hat übrigens Tradition: Schon 1949 wurde ein Alfa Romeo 6C 2500 Super Sport vom Publikum zum schönsten Automobil des Wettbewerbs gewählt – und trug fortan den Zusatz „Villa d’Este“ im Namen. Überhaupt fanden Italiens Automobilmarken in der Nachkriegszeit überraschend schnell zur Eleganz vergangener Tage zurück. Die Entwicklung der sportlichen Karosserieform bei Ferrari ließ sich in diesem Jahr wunderbar nachvollziehen – der 1951 von Ghia gezeichnete Ferrari 195 Inter ist noch rundlich-gemütlich, während Vignale den Ferrari 212 Inter bereits ein Jahr später deutlich geduckter und dynamischer erscheinen lässt und Pinin Farina im Jahr 1952 mit dem Ferrari 250 Europa sprichwörtlich „einen großen Bogen spannt“ und die langgezogene Silhouette späterer Grand Tourer vorwegnimmt.
Europa entdeckt das Reisen
In den 1950er Jahren entdeckt Europa das individuelle Reisen – die Schönen und Reichen nehmen nicht mehr den Zug, sondern das sportliche Cabriolet, um nach Frankreich oder Italien in die Sommerfrische zu verschwinden. Auch in den USA interessierte man sich wieder für europäische Sportwagen – wie etwa den wunderbarer Lancia Aurelia B24 Spider America von Pinin Farina, Albrecht Graf Goetz’s einzigartigen BMW 507 oder den Mercedes-Benz 300 SL – beim Concorso vertreten durch ein elfenbeinfarbenen Roadster mit rotem Original-Hardtop, mit dem einst Rudolf Caracciola auf Werbetour durch die Staaten brauste. Doch nicht nur gestandene Männer saßen hinter’m Steuer der Euro-Flitzer – der Ferrari 250 GT California Spider, den die britische Sammlerin Sarah Allen mit zur Villa d’Este gebracht hatte, wurde 1959 an einen gewissen Harvey Chur ausgeliefert. Zu dessen 18. Geburtstag.
Qual der Wahl für die Herrenfahrer
Die 1950er Jahre sind auch das Jahrzehnt der Gentleman Driver – Rennfahrer aus Leidenschaft, ausgestattet mit den nötigen finanziellen Mitteln für den kostspieligen Sport. Doch der Concorso führte einem auch das größte Problem dieser rasenden Privatiers vor Augen: Man muss sich entscheiden! Wie wäre es etwa mit einem wunderbaren 1953er Maserati A6GCS – eines der Prunkstücke aus der Sonderklasse zum 100. Geburtstag von Maserati? Oder doch lieber einen Fiat 8V, einen Mercedes 300 SL Aluminium-Flügeltürer, einen Ferrari 250 GT Tour de France?
Ein feuerspuckender Maserati 450 S als "Best of Show"
Neben den GT-Sportlern gab es freilich noch die reinrassigen Rennwagen vom Schlag eines Jaguar D-Type oder eines feuerspuckenden Maserati 450 S, den Albert Spiess in diesem Jahr mitgebracht hatte – und der auf der Terrasse für Kiesfontänen sorgte. Der Auftritt mit Top-Restaurator Egon Zweimüller am Steuer verfehlte nicht seine Wirkung: Der Maserati wurde von der Jury zum "Best of Show" gewählt. Einer der Rennstrecken-Haudegen der Zeit war übrigens ebenfalls zu Gast: Norman Dewis defilierte mit jenem Jaguar XK 120 mit Plexiglas-Kuppel, mit dem er am 20. Oktober 1953 die Rekordgeschwindigkeit von 277,410 km/h erreicht hatte. In den 1960er Jahren machten es die Marken dem Herrenfahrer aber auch nicht leichter. Als Zeitzeugen standen, fein aufgereiht am Ufer des Comer Sees: ein Ferrari 250 GTO mit Scaglietti-Karosserie und atemberaubender Renngeschichte (Sebring, Targa Florio, Spa, Monza, Tour de France), ein Porsche 904 GTS und eine Shelby American 427 Competition Cobra – von der Jury zum besten „Iconic Car“ des Jahres gewählt.
Selten bis seltsam
Beim Concorso d’Eleganza Villa d’Este bekommt man traditionell nicht nur die elegantesten und schnellsten, sondern auch die seltensten und seltsamsten Automobile der Geschichte zu sehen. Da war etwa der Ferrari 250 GT SWB mit Aluminium-Karosserie, den Giorgio Giugiaro mit nur 21 für Bertone entwarf: Statt der eleganten Borrani-Speichenfelgen trug der Ferrari Rennsport-Campagnolos aus Stahl, ebenso ungewöhnlich war das feinmaschige Kühlergitter und das große Panoramafenster im Heck. Auch der Alfa Romeo 6C 3000 CM Superflow IV von Pinin Farina sparte nicht mit Glas. Wer genau hinsah, erkannte in dem Einzelstück zudem den Vorfahren des Alfa Spider. Interessant war auch der Mercedes-Bent 230 SL, der von Tom Tjaarda für Pininfarina individualisiert, aber leider nie in Serie gefertigt wurde. Zumindest Axel Springer begeisterte sich für den Italo-SL – er steht als einer der letzten Besitzer im Zulassungsbuch.
Der große Gatsby von Tokio
Der größte Hingucker des Concorso war jedoch der superfuturistische Fiat Abarth 2000 Scorpione von Pininfarina: Das keilförmige Geschoss mit Klapp-Cockpit und freiliegendem Heckmotor von 1969 stammt aus der Sammlung eines japanischen Abarth-Fanatikers, der in Tokio ein Museum eröffnet hatte, nur um in den Besitz der wahnwitzigen Designstudie zu kommen. Shiro Kosaka hatte jedoch nicht nur den Abarth mit zum Concorso gebracht, sonden auch eine gewaltige Entourage von Beratern und Bewachern, die jeden Schaulustigen, der ihrem „Skorpion“ zu nahe kam, mit wilden Gesten in die Flucht schlugen. Und so endete die Schau recht schlüssig auch dort, wo sie begonnen hatte – mit dem großen Gatsby von Tokio.
Fotos: Rémi Dargegen for Classic Driver © 2014