Wer im Frühjahr 2014 über eine der großen Boulevards von Paris, Tokio, Berlin oder Buenos Aires flaniert, blickt mit großer Wahrscheinlichkeit in dieselbsen Schaufenster: Louis Vuitton, Prada, Gucci, Nike, H&M, GAP – innerhalb weniger Jahrzehnte ist es der Modeindustrie gelungen, einen globalen Stil zu etablieren und dabei fast alle regionalen Unterschiede vergessen zu machen. Umso schwieriger ist es heute trotz aller Auswahl, einen eigenen Look zu entwickeln und zu pflegen. Doch es gibt Auswege aus dem Gefängnis der Uniformität – und einer führt zurück bis ins 19. Jahrhundert.
Melancholiker und Snobs, stets exzellent gepflegt und gekleidet
Nach Friedrich Kluges etymologischem Wörterbuch waren Dandys jene „jungen Leute, die in auffälliger Bekleidung Kirche oder Jahrmarkt besuchten“. Dabei war der Dandy vor allem ein britisches Phänomen: Als selbstbewusster großstädtischer Gentleman bestand sein ganzes Bestreben darin, zu jeder Gelegenheit stets exzellent gepflegt und gekleidet zu sein. Viele Dandys entstammten der Mittelklasse, waren Melancholiker oder Snobs, versuchten jedoch durch perfekte Manieren und Umgangsformen den Lebensstil des Adels nachzuahmen. Das fehlende Budget für die Selbstinszenierung wurde meist durch wohlhabende Gönner oder Gönnerinnen querfinanziert.
Renaissance eines Lebensmodells
Einer der ersten Dandys (und Vorläufer der heutigen Celebrities) war George Bryan „Beau“ Brummell, der vor allem dafür berühmt war, berühmt zu sein. Später waren es Lebemänner wie Lord Byron, Charles Baudelaire und Oscar Wilde, die ihren extravaganten Lebensstil mit großem Aufwand pflegten – und das Bild des Dandys bis heute prägen: Extravaganter Dreiteiler, Fliegen, makellos gefaltete Einstecktücher, Bleistift-Moustaches und eine gut ausgestattete Bar in Reichweite – so demonstrierte der Dandy stets seine ästhetische Überlegenheit. Nun scheint es, das fast vergessene Lebensmodell könnte eine Renaissance erfahren.
„Bloß keine Jeans“
Der New Yorker Autor Nathaniel Adams und die kalifornische Fotografin Rose Callahan haben mehr als 50 „neue Dandys“ in New York, Paris, London und anderen Metropolen besucht und für ihr Buch „I am Dandy“ porträtiert. Da ist beispielsweise Sean Crowler, ein junger Brite mit Pfeife und „Stiff Upper Lip“, der sich im Morgenmantel an seiner gewaltigen Hausbar verlustiert. Und Mickael Francois Loir aus Paris, der auch im Regen offen fährt und nicht verstehen kann, „wie man zu einem klassischen Roadster bloß eine Jeans tragen kann.“ Und natürlich Nick Wooster, der graumelierte Modeblogger aus Kansas, der sich schon im Kindergarten um sein Outfit sorgte.
Ein Fest der Individualität
Man lernt den Medizinprofessor Dr. Andre Churchwell aus Nashville kennen, den eine modische Rivalität mit seinem Zwillingsbruder verbindet und der sich an jenen entscheidenden Moment erinnert, als er in seinem Zimmer in Harvard sein erstes Brook-Brothers-Hemd trug. Heute spaziert er in rosefarbenem Dreiteiler, mit Strohhut, durch die Straßen der Stadt. Doch nicht nur die Persönlichkeiten selbst faszinieren, oft sind es gerade die Details ihrer Mode, Accessoires oder Einrichtungen, die viel über den individuellen Lebensstil verraten. Und die abgedroschene Werbeformel der Individualität ist dabei tatsächlich das Stichwort: Denn kein Dandy gleicht dem anderen, jeder exerziert seinen ganz persönlichen Stil, seine Attitüde und Philosophie.
Fotos: Rose Callahan, aus „I am Dandy“, Copyright Gestalten 2014.