Zuerst kann man es nur hören, das bedrohlich anschwellende Donnern der Motoren, dann stoßen sie jäh im Sturzflug aus den Wolken: Fünf Spitfire-Maschinen dröhnen in Formation über die Köpfe der Zuschauer hinweg, ziehen dann wieder steil in den Himmel. Männer mit Tweedjacken schwingen ihre Hüte, Damen in Pelz und Stola halten sich verzückt an Offiziersarmen fest, Kinder mit Pomadescheitel klatschen in die Hände. So muss es ausgesehen haben, wenn die Royal Air Force der deutschen Luftwaffe im Sommer 1940 beim „Battle of Britain“ wieder einen Schlag versetzt hatte. Dass viele der jubelnden Piloten, Soldaten und Armeekrankenschwestern im echten Leben für Internet-Portale und Kreativagenturen arbeiten, stört dabei nicht. Im Gegenteil: Angesichts einer Londoner Jugend, die brandschatzend durch die eigenen Wohnviertel zieht, erscheint eine Welt, in der die Bösen noch Fritz oder Heinrich hießen und Messerschmitt flogen, geradezu unkompliziert. Gegen Fünfzehnjährige mit Flatscreens unter dem Arm läßt sich die Spitfire, die in diesem Jahr übrigens ihren 75. Geburtstag feiert, eben nur noch bedingt einsetzen.
Deutschland hat die Karl-May-Festspiele, England das Goodwood Revival. Dass sich hier die besten Rennfahrer von gestern und heute in die schnellsten und erfolgreichsten Rennwagen der 1940er bis 1960er Jahre schwingen und diese – ohne Rücksicht auf Millionenverluste und mit todesverachtendem Speed – über den Goodwood Motor Racing Circuit jagen, ist schon Grund genug, den Weg nach Südengland anzutreten. Wo sonst kann man heute noch einen Ferrari 250 GTO im Duell mit einer Shelby Daytona Cobra erleben? Auch die Airshows, in die sich 2011 neben den Spitfires auch die als „Flying Fortress“ bekannte Boeing B-17 einreiht, sind eindrucksvoll bis bedrohlich. Das eigentlich Faszinierende an dem dreitägigen Grand-Prix-Festival, vom gastgebenden Earl of March auf der ehemaligen Formel-1-Rennstrecke abgehalten, ist jedoch die kosequente Inszenierung: In die Boxengasse kommt der Gentleman nur smartly dressed, mit Jacket und Krawatte oder Vintage-Overall, und die Ladies werden freundlich aber bestimmt gebeten, ihre Taillen zu bedecken. Die Freude der britischen Damenwelt am Herzeigen der Elfenbeinhaut kann der strenge Dresscode dennoch nicht trüben: Schließlich sind auch 1960er-Jahre-Outfits erlaubt. Das Erstaunliche dabei ist, mit welcher Hingabe und Liebe zum Detail sich der Großteil der rund 140.000 Besucher der Epoche in Schale wirft: Vom distinguiert dreinblickenden Gentleman Driver mit Aston-Martin-Schlüssel in der Knickerbockertasche, über Teds und Mods in allen Schatierungen, bis hin zum Ace-Café-Biker in Lederkluft, mit Zigarette zwischen den Zähnen an seiner Norton schraubend, ist das subkulturelle Artenspektrum der Ära komplett abgedeckt. Nur das unvermeidliche Smartphone-Genestel enttarnt die Beteiligten als Bewohner des 21. Jahrhunderts.
Beachtlich auch, wie viele der Revival-Pilger mit dem eigenen Klassiker angereist sind: Der Rückstau der Aston, Jaguar, Bentley, Lotus und Ferrari ist gewaltig, ebenso der für Neuwagen gesperrten Vorzugsparkplatz, auf dem die Reihen der historischen Automobile bis zum Horizont zu reichen scheint. Wer von dort ins Herz des Revivals, The Paddock, vorstoßen möchte, muss erst einen historischen Jahrmarkt und dann die Revival High Street mit ihren Nachkriegs-Shops und Cafés durchqueren. Vor dem Tesco-Supermarkt lehnen die Halbstarken an ihren chromblitzenden Motorrollern, drinnen können längst vergessene und für’s Goodwood Revival eigens neu aufgelegte Limonaden und Schokoriegel gekauft werden. Um Paddock und Pit Lane setzt sich der Retro-Reigen fort: Porsche Classic hat extra einen alten 911 auseinander geschraubt, der in einer liebevoll ausgestatteten Fünfzigerjahre-Garage wieder zusammengeschraubt wird – und die Earl’s Court Motor Show gibt ein Gefühl dafür, wie Lamborghini Miura und Co. bei ihrem Debüt einst der Öffentlichkeit präsentiert wurden.
Auf der Rennstrecke dann das Revival of the Fittest: Hier geht es trotz Retro-Rennanzügen mit Herzblut zur Sache. Am Samstagmorgen etwa öffnet der Himmel die Schleusen und setzt den Asphalt tief unter Wasser – was die Fahrer aber nicht davon abhält, in ihren Vorkriegs-Bugatti und –Maserati mit Vollgas durch die Kurven zu driften. Der Streckenrekord, aufgestellt 1965 von Jim Clark und Jackie Stewart, fällt an diesem Wochenende zwar nicht – doch die goldene Ära des Motorsports ist beim Revival so lebendig wie bei kaum einem anderen Rennen. Dabei sorgen nicht nur die Helden von einst wie Stirling Moss, Richard Attwood, Derek Bell und Jochen Mass. Auf den Seitenscheiben der klassischen Formel- und GT-Rennwagen, die bei den zahlreichen Trophys an den Start gehen, ließt man auch Namen aktueller Rennfahrer – wie den des vierfachen Tourenwagen-Weltmeisters Andy Priaulx oder des achtfachen Le-Mans-Siegers Tom Kristensen. „Als Jochen Mass mir vor einigen Jahren riet, doch auch einmal zum Revival zu kommen, lachte ich nur“, erinnert sich Kristensen. „Ich dachte: Ja ja, wenn ich alt genug bin, gerne. Doch dann überzeugte mich Lord March bei einem Dinner – und als ich dann tatsächlich auf das Gelände kam, war ich schlichtweg überwältigt. Heute bin ich wirklich froh, an diesem großartigen Event teilnehmen zu dürfen.“
Die Begeisterung zahlt sich aus. Bei der Royal Automobile Club TT Celebration, in der GT-Rennwagen von 1960 bis 1964 im Wert von 100 Millionen Pfund starten, kann Kristensen in diesem Jahr zusammen mit seinem Teamkollegen Kenny Brack den Gesamtsieg einfahren. Ihr unglaubliches Shelby American Cobra Daytona Coupé geht als schnellster durchs Ziel – vor vier weiteren markerschütternden Cobras, Martin Brundle und Mark Hayes in Nick Masons Ferrari 250 GTO und Legenden der Automobilgeschichte wie dem Ferrari „Breadvan“, den Aston-Martin-Project-Rennwagen 212 und 214 sowie acht weiteren Ferrari 250 GT und GTO. Bei einem Spaziergang durch das Fahrerlager möchte man vor jedem zweiten Rennwagen in den Staub fallen – doch die Zahl der Ikonen ist zu groß.
Auch die anderen Rennläufe sind hochprominent besetzt – sei es die St. Mary’s Trophy, die Barrie Williams auf seinem gewaltigen Ford Galaxie 500 für sich entscheidet, oder das Richmond Trophy Race, bei dem Gary Pearson im BRM Type 25 seinen neunten Goodwood-Sieg einfährt und Ferrari 246 Dino und Maserati 250F deklassiert. Zum 50. Geburtstag treten zur Fordwater Trophy gleich dreißig Jaguar E-Type mit Rennsport-Historie an – ein Großteil in der Lightweight- oder Semi-Lightweight-Version. Das Donnern des vorbeirasenden Felds auf der Start-Ziel-Gerade ist mit Worten kaum zu beschreiben, den ersten Platz belegt das Team Berger-Newey mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 164 km/h. Das Feature Tribute gebührt derweil Juan Manuel Fangio, der vor 100 Jahren geboren wurde und vor 60 Jahren seinen ersten von fünf Weltmeistertiteln gewann.
Letztlich ist es die Mischung aus Geisterbeschwörung, Vergangenheitsbewältigung und britischer Freude am Mummenschanz, die das Goodwood Revival besonders macht. So hat der Aufmarsch der Wochenend-Militaristen auf Rennstrecke und Flugfeld auch immer etwas von Monty Python – auch weil unter macher Armeejacke ein pinkfarbener Straps hervorlugt. So frech, offensiv und leidenschaftlich kann man die Vierziger- bis Sechziger-Jahre wohl nur in England durcheinanderwirbeln. Es ist eine wilde Mixtur, bei der einem schwindelig wird – aber an der man unbedingt teilhaben will. Dann donnert es wieder, und aus den Wolken fallen die Spitfires. Dieses Mal ist es ein ganzes Dutzend. Es geht noch doller, das scheint die goldene Regel des Earl of March zu sein. Am Abend ist der engste Kreis von 1.000 Rennfahrern, Kampffliegern und Petticoat-Girls zur großen Zelt-Party geladen. Diesjähriges Motto: Barbarella. Deutsche Journalisten sind da natürlich nicht mit dabei – die passenden Bilder im Kopf nehmen sie aber doch mit zurück, in ihr farbloses Zuhause auf der anderen Seite des Ärmelkanals.
Goodwood galore! Mehr als 100 Impressionen vom Goodwood Revival 2011 finden Sie in unserer großen Bildergalerie.
Text: Jan Baedeker
Fotos: Jan Baedeker, Steve Wakefield