Vor fünf Jahren wurde die klinisch bereits tote Marke Bristol von der indischen Sidiqqi Familie gerettet. An deren Spitze steht mit dem Selfmademan und Unternehmer Kamal Siddiqi ein Mann, der auch schon den Vorsitz bei Frazer-Nash Research innehat. Sein Unternehmen übernahm die Bristol Anteile mit dem Ziel, die Marke wiederzubeleben und die über 65 Jahre alte Verbindung zwischen Bristol und Frazer-Nash zu erneuern. Mit Hilfe seiner drei Söhne, die alle auch im Vorstand sitzen, ging die Familie als Erstes das ganze Inventar durch: Von 50 Jahre alten Kisten mit Teilen und Autos in unterschiedlichen Erhaltungszuständen bis zu historischen Dokumenten und alten Computern. Ihre Begeisterung wuchs mit jeder neuen Entdeckung. Als sie in die hintersten Ecken der Fabrik in Filton vordrangen, stießen sie auf eine staubige Abdeckplane. Und fanden unter diesem alten Banner für eine Earls Court Motor Show etwas ganz Ungewöhnliches.
Ein hauseigener Scheunenfund
„Das Auto hatte ein Colorado-Nummernschild”, erinnert sich Noamann Siddiqi. „Die Fahrzeugidentifizierungsnummer wies es als Baujahr 1966 aus, doch fanden wir in den Produktionslisten weder für dieses noch ein späteres Jahr einen Eintrag. Keine Dokumentation, keine Zeichnungen. Es war der sprichwörtliche Scheunenfund, und dazu noch in unserer eigenen Fabrik.” Um mehr über diesen mysteriösen Speedster - der Designelemente und mechanische Komponenten unterschiedlicher Modelle nutzte – herauszufinden, sprachen sie mit alten Mitarbeitern. „Wir haben keine Ahnung, was das genau für ein Auto war”, lautete die Antwort. „Wir nannten es nur ‘Bullet’”. Fünf Jahre nach diesem Fund – und rund ein Jahrhundert nach dem Bristol Bullet Doppeldecker und 50 Jahre nach Bau des mysteriösen Fundstücks – erscheint nun ein moderner Namensvetter in Gestalt des ersten neuen Bristol seit über zehn Jahren.
Familienähnlichkeit
Stellt man die entfernten Verwandten nebeneinander, werden die Ähnlichkeiten der beiden Bullets offensichtlich. Das Design des neuen Modells ist das Werk eines noch nicht genannten italienischen Designstudios. Viele luftfahrbezogene Details des alten Modells wurden geschickt in die Moderne übersetzt. Allen voran die Kühlergrillöffnung, die dem Triebwerkseinlass eines Blenheim Bombers nachempfunden ist. Die Heckflossen und andere Details aus den glorreichen Bristol-Jahren vor 1970 wecken ebenfalls nostalgische Gefühle. Intimkenner der Marke werden darüber hinaus registrieren, wie die Form des Markenlogos in das Design der Leichtmetallfelgen eingeflossen ist. Enttäuscht sein werden sie höchstens, dass sich kein Reserverad hinter dem vorderen Kotflügel befindet („Wenn wir Platz dazu gehabt hätten, hätten wir es verstaut”, sagt dazu ein Ingenieur).
Anklänge an die Luftfahrt
Weitere Zitate aus der Bristol Vergangenheit finden sich im Interieur. Darunter ein „Motorstunden”-Zähler im Kombiinstrument, das auf den Bristol 404 zurückverweist. Eines der ersten Modelle, bei denen die Instrumente von der Mittekonsole in die direkte Blickrichtung des Fahrers wanderten, wie es auch bei Bristols Flugzeugen usus war. Das übrige Interieur ist erfrischend einfach und ungekünstelt, doch wurde uns versichert, dass das Infotainmentsystem hochmodernsten Ansprüchen genügen wird. Dank Technologien, die Metrocab (eine weitere Tochter des von Siddiqi geführten Mutterkonzerns Kamcorp) für die nächste Generation des Londoner Taxi (London Cab) entwickelt. Es wird sogar eine Concierge Funktion geben, die einen direkten Draht zum berühmten Showroom von Bristol Cars in Kensington herstellt. Auch daran wird deutlich, dass die 1946 gegründete Marke nun endlich den Sprung in die Moderne angeht. Ohne dabei ihre traditionellen Eigenheiten, die „Bristolisms“, zu verleugnen. Denn seien wir ehrlich – angepasst war Bristol nie. Dennoch hat man einige gepflegte Schrulligkeiten nun doch über Bord geworfen. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass Medienvertreter exklusiv Zugang zu einem Vorserien-Prototypen erhalten. Früher wäre so etwas selbst bei einem neuen Serienmodell undenkbar gewesen.
Letzte V8-Blüte
Ehe der Name „Bullet“ (zu Deutsch: Geschoss, Kugel) feststand, lief der neue Speedster intern als „Project Pinnacle” – und das aus gutem Grund. Denn er markiert das Ende einer langen und freudvollen Ära, in der Bristol stets auf erdige V8-Power gesetzt hatte. Doch diese Epoche wird nun aus Anlass des 70-Jährigen Markenjubiläums mit letztmals 70 Achtzylindern beendet. Ehe Bristol dann auf von Frazer-Nash Research entwickelte Hybrid-Antriebe mit Reichweitenverlängerer umsatteln wird. Hatten die Briten aus Filton früher amerikanische V8 zugekauft, nutzt die neue Kanonenkugel einen 4,8 Liter großen Sauger von BMW. Zuvor noch mal im Hause Bristol veredelt, wird der treffenderweise „Hercules” getaufte Motor an ein ebenfalls von BMW stammendes Schalt- oder Automatikgetriebe gekoppelt. Dann wird alles in ein zu 100 Prozent aus Kohlefaser gebackenes Chassis eingepflanzt. Mit nur 1.130 Kilogramm beschleunigt der Bullet in nur 3,7 Sekunden von 0-96 km/h. Laut Noamann Siddiqi eine Zeit, die dem Namen Bristol „zur Ehre gereiche“.
Neupreis günstiger als kolportiert
Die Leichtfüßigkeit wird schon vom Beifahrersitz aus spürbar. In Anbetracht des Prototypen-Status des Modells die für uns vorerst maximale Annäherung an den noch als Prototypen deklarierten Vorserienwagen. Von außen betrachtet entspricht das Design bis auf die wohl zu weit ausgestellte Tankklappe dem Serienmodell, doch stehen unter der Haut noch einige Feinarbeiten an. Sowohl im Bereich des Fahrwerks als auch bei Schließgeräuschen von Türen und Kofferraumklappe. Die Produktion der ersten Kundenfahrzeuge soll im Januar anlaufen, doch scheinen schon jetzt alle Voraussetzungen für ein unterhaltsames Fahrerlebnis vorhanden zu sein. Denn als weiteren Eindruck von unserer Mitfahrt nahmen wir dankend die schnellen Reaktionen auf Lenk- und Gaspedalbefehle mit. Unter vorgehaltener Hand gab man uns sogar zu verstehen, dass dank des exzellenten Leistungsgewichts das scharfe Beschleunigen im ersten, zweiten UND dritten Gang „sehr interessant“ sein werde. Zugleich wissen wir nun auch, wie teuer der neue Bristol sein wird: Weniger als £250.000, was deutlich unter den stratosphärischen Beträgen liegt, die von manchen Teilen der Fachpresse kolportiert worden waren.
Neue Epoche der Nachhaltigkeit
Diese sexy Heckflossen hinterlassen dennoch einen Hauch Melancholie. Denn mit dem Bau der 70 Autos dürften sie wohl verschwinden, als letzte Zeugen der so geliebten V8-Bristols. Dennoch scheibt dieses Auto nun ein weiteres Kapitel in der bunten Firmenchronik. Unter einem neuen Besitzer und mit einem frischen neuen Ansatz, der Bristol erstmals eine langfristig nachhaltige Entwicklung sichern kann. Es gibt nun endlich ein klares Bekenntnis dazu, diese historische und skurrile Marke am Leben zu halten. Dass der Neustart mit einem polarisierenden und limitierten Speedster erfolgt, ist genau das richtige Zeichen. Man weiß nie – vielleicht dürfen Sie ja sogar in den Showroom, um einen zu bestellen….
Fotos: Alex Lawrence für Classic Driver © 2016